Viiendas Peatükis – Eesti

Wehrturm? Windmühle? Überall in Estland stehen dies Teile herum und sind teilweise sogar bewohnt.
Wehrturm? Windmühle? Überall in Estland stehen dies Teile herum und sind teilweise sogar bewohnt.

Wie auf Verabredung fällt die Temperatur gleich auf den ersten Metern im nördlichsten der drei baltischen Länder merklich ab. Der letzte angenehm-warme Tag geht seinem Ende zu. Es wird leider auch nicht mehr hochsommerlich werden.

 

In Rõuge (sprich nicht: Ruhsh, sondern Röügge), einer kleinen Stadt an einem schmucken See, war die Hauptstraße wegen Kirmes gesperrt und der nächste Campingplatz, ein malerischer wird im Reiseführer versprochen, befand sich in Otepää, über 50km entfernt. Die Schatten wurden länger und es galt, Land zu gewinnen. Kurz vor Otepää geht, zumindest für Autofahrer, nichts mehr. Wieder Kirmes mit Uffta-Mugge. Ich schleiche an den Blechlawinen vorbei und sehe ein Campingschild. Der Campingplatz ist ein Parkplatz vor einer Hotelanlage. Auf der Wiese daneben stehen zwei Zelte. Also malerisch ist ja wohl anders, und fahre aus der Stadt heraus.

 

Ein paar Kilometer weiter ein neuerliches Campingschild, noch 3km – und Schotterpiste. Och nö. Aber war nicht noch ein Zeltplatzzeichen, ganz woanders? Und tatsächlich, zurück am Stadtrand, kein offizielles blau-weißes mit stilisiertem Zelt und Caravan, sondern eher unscheinbar unter den Alleenbäumen versteckt. 800 Meter Waldweg werden angezeigt, das sieht wesentlich besser aus als die Aussicht auf 3000 Meter Schotter. Nach allerdings doppelt so vielen als den veranschlagten achthundert Wegmetern durch den Wald taucht einen Bauernhof auf, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Steinbruchs und einer Holzfabrik. Auf dem Hof saß eine lautstarke Gruppe halbjungscher Esten, ihre Köpfe ordentlich von Alkohol und Sonnenbrand gerötet. Ups. Aber umzukehren und weiter zu suchen war nach den vielen Stunden auf der Straße in den Knochen keine Option, und es ging schon auf die neunte Abendstunde zu.

 

Eine resolute Frau in ihren späten 60ern fragte knapp angebunden, ob ich ein Zimmer wolle, 25€, oder zelten, 6€. Zelten ist gut. Sie führte mich fix herum, hier Bad, da Küche, Frühstück (inklusive) dort, im großen Zimmer, bitte in bar. Okay.

 

In der Küche saß ihr Mann sagte kurz „Hallo“ und widmete sich seinem Fernseher und seinem Orangensaft. Ich fragte ihn, ob ich mir einen Tee machen könne. „Ja.“ Holla die Waldfee, das ist wohl die estnische Gastfreundschaft, korrekt, aber kein Wort zuviel... Als ich meinen Tee schon zum Zelt tragen wollte, fragte mich der Mann, ob ich ihm nicht Gesellschaft leisten wolle, schließlich ist EM, und es spielen doch meine Leute gegen Italien? Klar, ich komme gerne. Punkt neun Ortszeit zum Anpfiff begab ich mich in die Küche. Der Opa sprach schlechtes, eigentlich gar kein Englisch, was ich aber erst nach etwa einer halben Halbzeit verstand, als er das Schweigen brach und in einem Halbsatz sagte, dass die deutschen gewinnen würden. Dann holte er aus dem Kühlschrank ein Bier heraus: „Present for you“, und goss sich O-Saft nach. Meine Verwunderung über solch gesunden Lebenswandel zerstob schnell, als der Schnaps ins Spiel kam, der dem Saft reichlich zugesetzt wurde. Zum Ende der ersten Halbzeit war das „Present“ alle, ein neues vor mir, und die dritte Saft-Wodka-Kombi seinerseits geleert. Ich fragte ihn jetzt, bierselig, was denn im Ort so los sei. Das Gespräch kam kaum in Gang, aber immerhin erfuhr ich so, dass der Ort seinen 900. Jahrestag begeht, deshalb die Kirmes, mit Livemusik, unter anderem mit Thomas Anders. Genau jenem Thomas Anders, dem von Modern Talking.

 

In der Zwischenzeit kam ein Pärchen an, ebenfalls zum Zelten. Zwei junge Litauer, die mit dem Fahrrad durch Estland reisten. Auch sie wurden von der resoluten Hausdame zackig in die Gepflogenheiten eingewiesen. Die beiden netten Endzwanziger sprachen mit der Hausdame russisch – „Wir hatten Glück, wir waren die letzten, die das noch gelernt haben“.

 

Nachdem sich die Jugend und die Chefin zurückgezogen hatten, blieb ich mit dem Hausherren in der Küche zurück. Ich hoffte, dass er als ehemaliger Einwohner der Sowjetunion doch etwas russisch können müsste. Erst tat er so, als ob er mein Ansinnen nicht verstünde, aber sah ein, dass dies der bessere Weg der Kommunikation ist, und so schalteten wir auf die Sprache der ehemaligen Okkupanten um. Aber auch das gestaltete sich schwierig, denn sein Russisch war nur unwesentlich besser, aber immerhin kamen wir in Schwung und verquatschten komplett die zweite Halbzeit bei O-Schnaps und Bier.

 

Menschenkette Vilnius-Riga-Tallinn, 23.8.89. Quelle: delfi.lt
Menschenkette Vilnius-Riga-Tallinn, 23.8.89. Quelle: delfi.lt

Er war zu SU-Zeiten Meister in einem Industriebetrieb in Tallinn. Er hatte die Kommunisten gehasst und auch die Russen, und so spreche er seit 25 Jahren kaum mehr Russisch, habe fast alles vergessen, denn die meisten Kunden seien heute eh Einheimische oder Skandinavier oder Deutsche. Außerdem habe er schon damals fast nur finnisches Fernsehen geschaut. Die Sprachen ähneln sich ja, und alle Esten, die er kannte, machten das. Die Russen hasse er außerdem wegen eines Vorfalls in seiner Familie: Als sein Großvater oder Großonkel nach der Besetzung durch die Nazis von der SS gefragt wurde, ob er denn nicht bei ihnen mitmachen wolle im Kampf gegen die Roten, lehnte er ab, und sie ließen ihn laufen. Als drei Jahre später die Rote Armee im Dorf einmarschierte und fragte, ob er und andere Männer nicht gegen die Deutschen kämpfen wollen, wurden sie erschossen, als sie sich weigerten. Eine tragische Geschichte. Ich sagte ihm, dass ich auch deswegen ins Baltikum gekommen bin, weil ich den drei kleinen Völkern Respekt zolle, die 1989 singend für ihre Unabhängigkeit kämpften und erfolgreich waren. Darauf ein Prost.

 

Just in dem Augenblick torkelte die halbjungsche Gesellschaft auf den Hof vom Volksfest herein, zu dem sie bald nach meiner Ankunft aufgebrochen waren. Der langhaarige Hüne muss wohl eine Wette verloren haben, den statt seiner Mähne glänzte eine frische Glatze. Nachdem sich seine Kumpels und Kumpelinen zum Schlafen zurückgezogen hatten, holte er noch ein Sixpack Bier hervor und wir beide laberten und soffen noch eine Weile. Es ging um das Sorgerecht für seine Tochter, den Stress mit Frauen und dergleichen. Aus dem Ghettoblaster dröhnte trotz weit fortgeschrittener Stunde russischer Elektropop. Wieso denn dieser schreckliche Russenpop? Na, das ist doch voll ironisch gemeint. Aha, verstehe. So ironisch wie unsere deutschen Schlagerparties.

 

 

03.07.2016

 

Das Frühstück tat gut. Filterkaffee, endlich. In Eigenregie gibt’s ja nur löslichen, und unterwegs leider ausschließlich diese Maschinenplörre, in Deutschland euphemistisch „Caffè Crema“ genannt. Der Hüne döste über seiner Tasse, wird aber keine 15 Minuten später fit wie ein Turnschuh das erste Bier ansetzen. Verrückter Kerl. Kurz nach dem Frühstück tauchte die Dame des Hauses auf, wie ausgetauscht, fast leutselig sogar. In stockendem, aber sauberen Deutsch erzählte sie, dass heute der letzte Tag sei, an dem sie ihren Campingplatz aufhaben, dann fahren sie zurück, denn sie wohnen in Tallinn, und für alte Leute ist eine große Stadt ja doch besser, wegen der Infrastruktur. Dann schiebt sie mir ihr MacBook unter die Nase, die Webseite leavinghomefunktion.com geöffnet. Ihr Sohn Kaupo sei dabei, sagt sie, bei einer Weltumrundung zusammen mit deutschen Motorradfahrern auf Ural-Gespannen, das deutsche Fernsehen hätte darüber berichtet und öffnet einen entsprechenden ZDF-Link. Jetzt würden sie irgendwo in Sibirien feststecken, sagt sie noch. Im Haus herrscht maximale Aufbruchstimmung. Ihr Mann packt schon einen Menge Kram für die Heimreise nach Tallinn zusammen, auch die halbjungsche Gesellschaft, zumindest der weibliche Teil, stopft hektisch dutzendweise Reisetaschen in die Autos. Der Hüne wird wohl, was zu hoffen wäre, nicht ans Steuer gelassen...

 

Die Sonne scheint träge durch ein paar Wolken, doch das Wetter kippt schnell. Rasant bauen sich Wolkentürme auf, und es stürmt richtiggehend. Ein Viertelstündchen später erreiche ich Sangaste, im Ortskern – ein Gästehaus, das ich stante pede anfahre. Keine Sekunde zu früh, denn kaum abgestiegen geht auch schon ein Unwetter nieder. Ein Zimmer mit allem Komfort ist für 35€ zu haben. Es ist grade halb zwei am Nachmittag. Der Tag ist gelaufen. Es regnet ohne Unterlass.

 

Aber dafür gibt es ja eine Glotze. Draußen blitzt und donnert es, schüttet aus Kübeln, aber ich schaue etv1. Man zeigt ein Festival der Volkskunst. Kollektive aus ganz Estland treten in einem Wettstreit in einem Stadion gegeneinander an. Zu Musik werden verschiedenste Choreografien inszeniert, die, aus der Vogelperspektive betrachtet, schöne Muster ergeben. Dabei geht es auch moderner zur Sache, denn es sind viele Jugendensembles dabei, und so manche Musik läuft nicht vom Band, sondern wird live von Tanel Padar, einem, wenn nicht dem, estnischen Rockstar, und seiner Band gespielt.

 

Einer der Beiträge hatte etwas völlig originelles: Frauen benutzten nicht etwa bunte Tücher, Fächer oder ähnliche Accessoires, sondern – ihre Babys. Riesenapplaus im Stadion, offener Mund im Gästezimmer in Sangaste. Und keines der Babies, sofern im Großformat gezeigt, greinte etwa wegen seines „Auftritts“, im Gegenteil, glückliche Babygesichter, wie in der Werbung für Hipps Breichen. Dabei wurden sie ordentlich über Schultern geworfen, um ihre Achse gedreht und sonst wie akrobatisch gefordert. Wenn das unsere Prenzlberg-Muttis gesehen hätten! Jedenfalls war ich sehr angetan davon, dass in Estland gelebte Volkskunst Platz im TV, sogar im Ersten Staatskanal findet. Und welch ein Unterschied zu unserm Musikantenstadl. Ein weiterer Staatskanal heißt etvpluss und sendet seit September 2015 ein russischsprachiges Vollprogramm – landesweit, aber vor allem für die russische Bevölkerungsmehrheit in der Provinz Ida-Virumaa im Nordosten. Ja, man kann wirklich den Eindruck gewinnen, dass die Gängelung der ehemaligen Okkupanten, in kulturellen Belangen zumindest, nachgelassen hat. Und für Debil-TV, welches natürlich auch in Estland auf dutzenden Kanälen parkt, sind ausschließlich die Privaten zuständig.

 

 

04.07.2016

 

Endlich scheint die Sonne. Ein bisschen. Es ist trocken, aber kühl, und somit wieder die komplette Montur angesagt; die luftig-easyriderige Jeans-Flanellhemd-Zeit ist wohl endgültig passé. Der Kurs liegt an zum am weitesten entfernten, nördlichsten wie östlichsten Punkt dieser Reise – Narva.

 

In Jõgeveste steht das Mausoleum des Generals Michael Barclay de Tolly, der im Napoleonischen Krieg Russlands Armeen führte, darunter in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und bei der Einnahme von Paris 1814. Wie zu erwarten war geschlossen. Es heißt, dass im 2. Weltkrieg beide Kriegsparteien, die sowjetische wie die deutsche, dermaßen viel Respekt vor der Totenruhe des Heerführers hatten, dass sie dort, obwohl ein stark umkämpftes Gebiet, keine Kriegshandlungen vornahmen und somit das Mausoleum unbeschädigt blieb. Nach dem Krieg wurde neben dem Mausoleum eine bescheidene Gedenkstätte für die Sowjetsoldaten errichtet.

 

 

Nach Abhakung dieses Tagesordnungspunkts setzt das Schiff CB500 Segel gen Peipus-See. Er grenzt an Russland und ist über 100km in seiner Nord-Süd-Ausdehnung lang und vielleicht 35km breit. Im April 1242 schlugen auf dem zugefrorenen See die Kämpfer der Nowgoroder Rus unter Alexander Newski vernichtend ein Ordensritter-Heer. Die „Schlacht auf dem Eis“ ist bis heute im historischen Bewusstsein der Nordslawen verankert, und Sergei Eisenstein drehte 1938 ein Filmepos darüber – mit hintergründigem Blick auf das immer aggressiver werdende deutsche Nazireich, das dann auch drei Jahre später die UdSSR überfiel – quasi nach 699 Jahren...

 

Es liegen etwa 200km vor mir, man könnte es knapper haben, aber die Schotterwege lauern überall. Hinter Tartu geht es auf der 43 nach Kallaste am Peipus, dann immer weiter am See entlang nach Kauksi, wo die Karten einen Zeltplatz verzeichnet haben. In Kallaste angekommen – kein Riesensee nirgends, nur Wälder, Felder. Die Uferstraße ist keine. Das sieht man natürlich auf einer 1:750000er Karte nicht sofort. Doch nach einer weiteren knappen Stunde – ein Rastplatz, und – bäng! Wasser bis zum Horizont. Es weht eine steife Brise, der See schlägt Wellen. Die Wolken reißen in Fetzen, unwirkliches Sonnenlicht. Fröstelnd steige ich ab und genieße für ein paar Minuten das Wechselspiel der Elemente.

 

Der Reiseführer eröffnet, dass im Osten des Landes die „Indianer Estlands“, die Setu, leben, ein etwa 10000 Menschen zählender Stamm, doch hier ist es schon zu weit nördlich, um deren Gebiet zu besuchen. Allerdings haben sich im 16./17. Jahrhundert, nach der Teilung der russisch-orthodoxen Kirche in die Alt- und die Neukirche, viele Altgläubigen auf ihrer Flucht vor Verfolgung in dieser Gegend niedergelassen. Und so sieht man immer öfter kleine orthodoxe Tempel, gut in Schuss, in einigen Fenstern stehen Samoware, und die Grabstätten auf den Friedhöfen sind überwiegend kyrillisch betextet.

 

Dorfkirche der Altgläubigen
Dorfkirche der Altgläubigen

 

Der Himmel zog sich erneut zu, aber bis Kauksi war es nicht mehr weit. Dort angekommen fand ich den Campingplatz sofort und hoffte auf eine schicke Holzhütte, doch die wenigen waren alle schon belegt, sodass ich mein Zelt aufbauen musste. Es fing nun doch an zu tröpfeln, was mich aber nicht von einem Spaziergang durch den Wald zum Ufer des Peipus abhielt. Knorrige Kiefern bis fast ans Wasser heran, und ihre Wurzeln, irgendwie verhakt im Sandstrand, sahen aus wie aus einer Kulisse eines Märchenfilms. Der See war noch warm, aber Badewetter sieht definitiv anders aus.

 

Der bürokratische Aufwand an der Rezeption befremdete. So ziemlich alle Daten mussten angegeben werden, die dann die blonde hübsche Aushilfe mit Ausweis, Moppedzulassung und Führerschein abglich.

 

Warum? Wegen der Russen, wir sind im Grenzgebiet. Aha. Die Russen sind eine Hämorrhoide im Arsch, drüben die sowieso, aber erst recht die, die hier wohnen und ihr Maul aufreißen, die sollen doch alle zum Teufel scheren. Die Nachfahren der Altgläubigen auch? Nein, die gehören zu uns, sie stehen ja in Opposition zu Russland und ihrer Neuorthodoxie, und überhaupt, wie haltet ihr das in Deutschland mit euren ganzen Zuwanderern aus, soll das etwa unser Europa sein – die EU ist das letzte, die wollen all unsere nationalen Eigenheiten unterpflügen und sehen der Islamisierung wohlwollend zu, die in Brüssel und vor allem bei euch, in Deutschland, und die Briten, die machen es richtig.

 

Tja, was soll man nun darauf sagen. Es war kurz vor Mitternacht und stark bewölkt, dennoch derart hell, dass man ohne Lampe noch ein paar Zeilen lesen konnte. Norden eben.

 

Urwüchsiges Ufer des Peipus-See
Urwüchsiges Ufer des Peipus-See

 

 

05.07.2016

 

4 Uhr 45. 12°. Regen. Ich liege im Schlafsack, friere wie ein Schneider, packe alles, was auf Armlänge erreichbar ist schon ein, lausche dem Trommeln der Tropfen auf dem Zeltdach, abwartend, ob es nicht etwas weniger wird. 5 Uhr 10. Jetzt hat es aufgehört! Herausgekrochen, in Rekordzeit abgebaut, nebenher den Esbitkocher angeschmissen, Kaffee reingekippt, aufgesattelt.

 

5 Uhr 40. Aufbruch. Der Himmel ist stahlgrau, und schon nach wenigen Kilometern setzt erneut feiner, aber stets zunehmender Regen ein. Alsbald setzt der Berufsverkehr ein, und zu allem Überdruss wird die Straße zu einer Aneinanderreihung von mit Schlamm und Rollsplitt garnierten Schlaglöchern. Noch knapp 60km bis zur Kreuzung nach Narva.

 

Zehn vor sieben. Endlich die Kreuzung, doch zunächst ist tanken und im trockenen Statoil-Shop ein Heißgetränk angesagt. Die Tankstellenmädels haben ihr Radio auf einen russischsprachigen Sender eingestellt, wo erstaunlicherweise Puschkin-Gedichte rezitiert werden und der Billigpop völlig durch Abwesenheit glänzt. Respekt!

Doch was tun? Ostwärts, nach Narva, oder, in Anbetracht des Mistwetters, westwärts, die Heimreise einleiten? Einen weiteren Kaffee fällt die Entscheidung für ersteres, trotz Regen und Hochberufsverkehr. Der Himmel ist trostlos. Die Landschaft ist trostlos. Hier und da tauchen Industriekomplexe auf, verlassene wie noch aktive. Hier ist Idu-Virumaa, quasi das Ruhrgebiet der einstigen Sowjet-Estlands. Schornsteine, Fabriken, Mauern. Auf einer steht auf russisch: „Ich liebe Sie, mein Hase!“ Auf dem Rückweg mache ich dann ein Foto davon, jetzt, hinzu, gilt es nur und ausschließlich, stur ans Etappenziel zu kommen.

 

Romantik in Kohtla-Järve.
Romantik in Kohtla-Järve.

 

Narva, kurz vor acht. Alle Straßen führen entweder in das Industriegebiet oder nach Russland, genauer, sie laufen auf den Grenzübergang nach Iwangorod zu, der Zwillingsstadt auf der anderen Seite des Narva-Grenzflusses. Zu beiden Seiten des Flusses stehen sich zwei große Festungen gegenüber, die Herrmannsfeste des Deutsche Ordens in Estland und die namensgebende Iwangorod in Russland. Steinerne Zeugen eines mittelalterlichen Konflikts zwischen West und Ost – auch jetzt scheinen sie diese Symbolik zu transportieren. Eine Brücke überspannt den Grenzfluss. Darauf stauen sich Autos und Lastwagen, man kann sehen, dass die Grenzabfertigung langsam, sehr langsam vonstatten geht. Dennoch – abseits der Brücke sind nirgends Grenzposten auszumachen. Der Fluss ist nicht einmal sehr breit. Reste einer Vorkriegsbrücke gammeln im Wasser herum. Der Zweite Weltkrieg hat auch hier gründlich gewütet. Im Reiseführer steht geschrieben, Narva sei einst eine Perle deutscher und skandinavischer Architektur gewesen. Jetzt sieht die ganze Stadt aus wie ein Moskauer Suburb. Verschlossene und unfreundliche Gesichter überwiegen. Ein paar abgewrackte russischstämmige Mittzwanziger gammeln besoffen, krakeelend und fluchend in Joggingklamotten vor einem Supermarkt herum, Trostlosigkeit und Hass im Blick.

 

Hermannsfeste vs. Iwangorod
Hermannsfeste vs. Iwangorod
Narva. Haus mit mysteriösem Aufbau
Narva. Haus mit mysteriösem Aufbau
Narva. Brachflächen und Plattenbauten
Narva. Brachflächen und Plattenbauten

 

Sillamäe, zehn Uhr. Das Zentrum erscheint gleichsam als ein Freiluftmuseum für die Zuckerbäckerarchitektur der späten Stalin-Ära. Viele Bäume lockern das Bild auf. In des 60ern kamen dann Chruschtschows Drei- und Fünfstöcker aus Ziegelstein dazu, auch da viel Grün dazwischen. Sillamäe existierte offiziell gar nicht – eine geheime, geschlossene Stadt der sowjetischen Atomrüstung, einst auf keiner Landkarte verzeichnet. Die Sonne kommt zaghaft hervor und taucht die gelb verputzen Gebäude in ein warmes Licht. In der wasser- wie luftdichten Regenmontur spazierend wird auch mir warm, doch das ist okay, denn seit mehr als fünf Stunden, habe ich durchgehend gefroren.

 

Kohlta Järve, halb zwölf. Hier war und ist ein, man mag es nicht glauben, Bergbauzentrum Estlands angesiedelt. Nicht, dass da Schächte Hunderte Meter in die Tiefe gehen würden. Aber im Tagebauverfahren wird seit über einem halben Jahrhundert im großen Maßstab Ölschiefer abgebaut. Noch 2002, als unser ursprünglicher Reisetermin angesetzt war, soll die Gegend ein ökologisches Notstandsgebiet gewesen sein, die Luft schweflig, hervorgerufen durch mangelhafte Umwelttechnologie und Schwelbrände auf den Abraumhalden. Die Sowjets nahmen es mit dem Umweltschutz ja nicht so genau. Das Produktionsvolumen ist natürlich im Vergleich zu Sowjetzeiten eingebrochen, und auch dürften strenge europäische Öko-Normen die übelsten Auswüchse der Umweltverschmutzung unterbunden haben. So war auch heute die Luft klar, obwohl es recht betriebsam auf dem Bergbaugelände zuging.

 

Die Stadt selbst ist neu, gegründet 1946 als Bergarbeiterstadt. Auch hier allerorten Zeugen sozialistischer Baukunst, teilweise mit vielen Anleihen bei der europäischen Klassik: Was einst Parteizentren, Kombinatsdirektionen und dergleichen gewesen sein dürften, protzen mit Säulen und Portalen. Manche stehen leer, manche nicht. In einem beispielsweise ist ein Möbeldiscounter untergebracht, davor erinnert eine Statue einer trauernden Sowjetsoldatin an den Großen Vaterländischen Krieg. Das Prunkstück allerdings ist der Kulturpalast von Kohtla-Järve, erbaut 1952. Aufwendig restauriert steht er da wie geleckt – und selbst das Wappen der UdSSR strahlt in makellosem Weiß über den üppigen Vorplatz. Die Programmankündigungstafeln und Litfaßsäulen affichieren ein breit aufgestelltes Programm, gleichberechtigt auf estnisch wie russisch, Theater, Musik, Ausstellungen, Lesungen. Einige Tage später wird hier ein in der Sowjetunion bekannter Satiriker seinen Auftritt absolvieren, Efim Schifrin.

 

Einige Meter entfernt allerdings verfällt ein Betonplattenbau der 70er Jahre, eine einstige Ingenieursfachhochschule. Man sieht wenig Jugend auf den Straßen.

Kurz hinter dem Ortsausgang verkündet ein Großplakat ein Bauvorhaben: Es soll auf einer grünen Wiese ein Spa-Ressort entstehen. Die Leute haben echt Humor – im Hintergrund rauchen die Schlote der Ölschieferbetriebe...

 

Kohtla-Järve. Ölschieferbergbau.
Kohtla-Järve. Ölschieferbergbau.
Sillamäe
Sillamäe
Kohtla-Järve. Kulturpalast.
Kohtla-Järve. Kulturpalast.

Rakvere. Ordensritterburg.
Rakvere. Ordensritterburg.

 

Ein Truckercafe kommt gerade recht, es gibt mal wieder anständig zu was Mittag: Borschtsch, Piroggen, ein Teilchen. Wieder aufgesessen stelle ich fest, dass da etwas nicht stimmt. Ich bin mörderisch verspannt, Hals, Schultern – alles fest: Stürmischer Wind mit ordentlichen Böen ist aufgekommen, unterm Helm merkt man das nicht sofort, denkt, es ist der Fahrtwind. Ich erreiche Rakvere mit gefühlten 150 km/h, dabei gehen auf das Konto des Gegenwinds schon mal geschätzte 65, und biege, brav der Empfehlung meines Reiseführers folgend, die Ordensritter-Burgruine passierend, nach Väike-Maarja ab. Dort soll es ein Museum der „Waldbrüder“ geben, jenen antisowjetischen Partisanen, die bis weit in die 50er Jahre bewaffneten Widerstand gegen die Sowjets leisteten. Dort gegen 14 Uhr angekommen, das Touristikzentrum aufgesucht (zu), den Stadtplan konsultiert: Nichts, kein Hinweis auf eine derartige Exposition.

 

Der Gegenwind wird unerträglich. Ich halte sogar an, um ein kleines Video von den sich biegenden und windenden Bäumen und Sträuchern aufzunehmen. Obwohl der Regen längst vorbei ist – die Stimmung nähert sich dem Nullpunkt. Nonstop geht es auf Hauptmagistralen via Paide Richtung Virtsu, dem Fährhafen, von wo aus die Perle Estlands, die Insel Saaremaa angefahren wird, denn immerhin hat die Karte dort einen Zeltplatz verzeichnet. Einen am Meer, mit Blick auf Saaremaa, hoffe ich inständig.

 

Tja, die Hoffnung wurde natürlich enttäuscht. Virtsu ist ein Supermarkt mit angeschlossenem Hafen. Das eine Campingschild, was ich nicht für voll genommen hatte, lag 15km zurück. Also kehrt marsch, und dann drei weitere, dem Pfeil folgend, über Stock und Stein in den Wald hinein. Die Vermieterin sprach ein lupenreines Deutsch und hatte sogar noch eine Dachkammer frei, allerdings keine ebenerdige Hütte. Dort, so sagte sie, wohnen Straßenbauarbeiter. Eine sehr steile und sehr enge Treppe führte dahin, und die letzte Anstrengung des Tages war das Hochwuchten des Gepäcks. Ab in die Horizontale. Halb zehn am Abend.

 

 

06.07.2016

 

Tiefblauer Himmel. Von der Morgensonne orangefarben angestrahlte Kiefernwipfel, die sich im Wind wiegen und der die Stamme knarzen lässt. Die Bauarbeiter schweigen in ihre Kaffeetassen hinein. Kurz vor acht brechen sie zu ihrem Tagwerk auf, ich folge ihnen eine gute halbe Stunde später und nehme Kurs auf Saaremaa. Unweit der Stelle, wo der Feldweg in die Hauptstraße mündet, verkündet ein Schild: „Kirssi Oldtimer Muuseum“. Das Areal: Eine Scheune, daneben ein Bauernhaus. Ich schleiche auf dem Hof umher und werde gleich von einem rüstigen und schalkhaften Senioren, Herrn Kirss persönlich, in Empfang genommen.

 

Ob ich ins Museum wolle? Ja. Dann komm mal. Herr Kirss kauderwelscht in deutsch, englisch und russisch über seine Exponate, alte Kutschen, diverse Autos aus den 20ern, 30ern. Auch eine kantige sowjetische Staatskarosse der Marke SIL aus den 70ern ist darunter. Ach, die haben mir ein paar Russen angedreht, sagt Herr Kirss, nichts besonderes. Die hatten sich da so eigenartig benommen, bei ihrem ersten Besuch, ich dachte zuerst, sie wollten den Laden ausräumen, aber dann eines Tages stand dieses Ding auf meinem Hof, und sie wollten sogar kaum was dafür haben. Dann zeigt er diverse Militärautos, im einem von ihnen liegt eine Sanitätstrage, welche er behende auf dem Boden aufklappt und mich auffordert darauf liegend Platz zu nehmen – direkt unter eine riesige Plane mit lauter Portaits von Mädels darauf, die so gar nicht in das automobile Sammelsurium passen. Welche gefällt dir am besten? Die langhaarige Brünette mit Brille da. Oh, da mag jemand den intellektuellen Typ, sagt Herr Kirss, und erklärt, was es mit diesen Mädchen auf sich hat. Er ist nämlich seit den 90ern Veranstalter der Miss-Estonia-Wahlen, und diese hier sind die Finalistinnen der letzten Jahre.

 

Am Hafen angekommen sehe ich, dass der Kahn grade ablegt – und mich beschleichen Zweifel: Lohnen sich Überfahrt und weitere dutzende Kilometer, um so mehr, dass die Fähre erst die Insel Muhu ansteuert, die noch durchquert werden will, bevor man auf Saaremaa ankommt? Das dauert. Das kostet. Also: Spontane Planänderung – ab nach Haapsalu, einst wie heute Kurort, wo selbst Zar Nikolaus II des öfteren die Sommerfrische genossen hatte. Es ist grade zehn durch, genug Zeit also, das reichliche halbe Hundert an Kilometern um die Matsalu Bucht herum in Angriff zu nehmen. Es verspricht eine entspannte Fahrt zu werden. An einer Baustelle unterwegs malochen die schweigsamen Männer vom Campingplatz.

 

 

In der zwölften Stunde erreiche ich Haapsalu, die Straße führt zunächst den einen oder anderen Kilometer durch die Neustadt. Modern sanierte oder in Sanierung begriffene Sowjetwohnblocks und neuzeitliche Shopping Malls prägen das Bild. Dieses Mal jedoch wird kein Zeltplatzschild ignoriert, und nach dem schnellen Aufbau, vom Ballast befreit, erkunde ich die Innenstadt. Diese ist wie aus einem Märchenbuch entsprungen. Solide Bürgerhäuser, alte Hotels, malerische Holzhäuser stehen eng beieinander.

 

Die mittelalterliche Bischofsburg, an der restauratorisch herumgewerkelt wird, bildet das Zentrum Haapsalus, umgeben von kleinen Sträßchen und Gassen, welche kleine Souvenir- und Volkskunstläden wie gut besuchte Cafés und Restaurants beherbergen. Deren Preise sind westeuropäisch, jedoch sind viele zahlungskräftige Finnen und Schweden unterwegs. Die Altstadt wird auf der einen Seite von der Ostsee begrenzt, dort befindet sich ein großer Sanatoriumsbau. Einige Hinweisschilder zeigen den Weg zur „Tschaikowski-Bank“. Dieses steinerne Denkmal in Form einer überdimensionierten Sitzgelegenheit weist auf einen weiteren prominenten Besucher der Stadt hin, den Komponisten Peter Tschaikowski, der 1867 dort seinen Sommerurlaub verlebte. Wer sich auf die Riesenbank setzt, kann sich für eine Weile von Tschaikowskis Musik beschallen lassen, die aus dahinter angebrachten Lautsprechern dringt.

 

Haapsalu. ehemaliges Hotel aus dem 19. Jh
Haapsalu. ehemaliges Hotel aus dem 19. Jh

Eine gute Viertelstunde zu Fuß entfernt befindet sich das Schweden-Museum. So, wie die Schweden in Finnland heute noch eine Minderheit bilden, so lebten seit dem späten Mittelalter freie schwedische Bauern auch in West-Estland. Dabei konnten sie ihre Unabhängigkeit über die Jahrhunderte bewahren und sind nie Leibeigene des jeweils gerade herrschenden Adels geworden. 1944 floh der überwiegende Teil von ihnen vor der sich nähernden Front nach Schweden. Das Museum ist eine einstige Fischerkate.

Ein gestickter Teppich illustriert die Geschichte der estnischen Schweden auf eindrucksvolle Weise. Er wurde vor nicht allzulanger Zeit, nach der Unabhängigkeit Estlands, von deren Nachfahren angefertigt, wie auch der Museumsleiter einer von ihnen ist. Und so erzählte er, dass zwar die estnisch-schwedischen Familien in ihrer überwiegenden Mehrzahl wohl nicht mehr zurückkommen werden, aber einige, vor allem Senioren, täten dies doch. Sie alle haben sich der Bewahrung ihres kulturellen Erbes verschrieben, und der Haapsaluer Kulturverein, der auch das Museum betreut, pflegt einen regen Austausch mit entsprechenden Vereinen in Schweden, wobei sie auch zunehmend von estnischer Seite unterstützt werden. So besuchen viele Ehemalige Haapsalu, und es finden regelmäßig kunsthandwerkliche Aktivitäten oder Feste statt. Unweit der Schwedenkate prangt am Ufer eine Tafel mit der Illustration eines Bauvorhabens, eines protzigen Ressorts, dessen Fundament bereits gelegt ist. Mal sehen, wie es aussehen wird, wenn es fertig ist.

Gegen fünf steuere ich den Zeltplatz an und treffe zum ersten Mal auf der Reise einen moppedfahrenden Landsmann, der mit seiner 1300er Honda X-4 nach Finnland zu einem Treffen unterwegs ist. Sein Motorrad ist knallgrün, und sein Maskottchen ist ein – Frosch. Von Norden her zieht es sich langsam zu und ich bedauere den Froschmann schon einmal vorsorglich, denn das Wetterradar verheißt für seine Nordroute nichts Gutes. In den Morgenstunden des

 

 

07.07.2016

 

heißt es, schleunigst Land zu gewinnen, denn die Wolkendecke ist über Nacht noch mächtiger geworden. Zu allem Überfluss hat der Wind wieder aufgefrischt, so heftig, wie zwei Tage zuvor, allerdings blies er nun glücklicherweise aus Nordost, mir in den Rücken. 

Doch zunächst, es ist noch nicht acht, statte ich dem Eisenbahnmuseum von Haapsalu einen Besuch ab. Das Museum ist ein ehemaliger Bahnhof, ein repräsentativer Holzbau, extra für die Besuche des Zaren in seiner Sommerresidenz errichtet. In sattem Gelb und Rot strahlt er die Erhabenheit längst vergangener Zeiten aus. Man kann förmlich sehen, wie uniformierte Galane ihren Damen mit Sonnenschirmen, ihren Rock zusammenraffend, den Salonwaggons entsteigen helfen, begleitet von Dienern, die ihnen Truhen und Koffer hinterher tragen, und meint fast, den Qualm verbrennender Kohle zu riechen und Militärkapellen Marschmusik spielen zu hören, untermalt vom Pfeifen der Dampflokomotiven...

 

Gleich kommt der Zar... ehem. Bahnhof in Haapsalu
Gleich kommt der Zar... ehem. Bahnhof in Haapsalu
diverse Lokomotiven...
diverse Lokomotiven...

 

Doch heute, hundert Jahre später, fahren hier keine Züge mehr. Dafür stehen diverse leicht rostige Exponate auf den Gleisen herum: Sowjetische Dampfloks, einst zur Grundausstattung der Sowjetischen Eisenbahn gehörend und noch bis in die 80er Jahre Nebenstrecken unterwegs; eine deutsche 52er-Baureihe, die als Kriegsbeute in die UdSSR gelangt war; „Taiga-Trommeln“ genannte Dieselloks für Güterzüge; ein elektrisch betriebener Zug einer Vorortbahn der Baureihe ЭР, seinerzeit die Standard-S-Bahn in der ganzen Sowjetunion schlechthin. Übrigens wurde diese Baureihe seit den 50er Jahren in Estland produziert und unzählige Exemplare fahren heute noch in den Ballungsgebieten des ehemaligen Imperiums herum. Etwas entfernt vom Bahnsteig, dort wo früher Depots und Rangierweichen gewesen waren, gammeln diverse Güter- und Passagierwagen vor sich hin.

 

Erstaunlicherweise kommt zögerlich die Sonne durch. Glück gehabt. Ich verlasse Haapsalu auf dem Wege, den ich gekommen war, fahre durch Lihula durch, eine Kleinstadt mit auffälligen Bevölkerungsschwund und entsprechend hohem Leerstand, darunter einem futuristisch anmutenden Betonklops, wahrscheinlich einst einem Kulturzentrum.

 

In Pärnu verfahre ich mich erwartungsgemäß, aber es ist schon noch nicht einmal elf am Morgen, und ich habe keine Eile und drehe ich doch noch eine Runde durch die Stadt.

Pärnu ist bekanntermaßen, zumindest für Estlandkenner, eine Kulturhochburg und Pilgerstätte für den Urlauber mit gehobenen Ansprüchen, auch das schon mindestens seit der Zarenzeit und wird zuweilen „Sommerhauptstadt“ genannt. Die Stadt ist überregional bekannt für ihre repräsentative Holzarchitektur, wenn auch viele dieser Häuser leer zu stehen scheinen.

 

An einer Kreuzung biege ich wieder irgendwohin ab und lande im Plattenbauviertel dieser schicken Stadt, doch diese stehen fast direkt am Meer – definitiv keine so üble Sache! Unweit der Siedlung, auf halben Wege zum Hafengelände, direkt am Meer, befindet sich ein großflächiges Weideland, und eine Rinderherde widerkäut träge in Sichtweite von Leuchttürmen. Warum aber in dieser menschenleeren Mondlandschaft ein Plumsklohäuschen steht, bleibt wohl ein Geheimnis.

 

Die E67, bekannter als „Via Baltica“, Richtung Süden, ist irgendwann auch wieder auf den Wegweisern vermerkt. Hochbelastet, aber erfreulicherweise gibt es ab Häädemeeste eine Alternativroute, die durch ein küstennahes dörfliches Erholungsgebiet mit Zeltplätzen, Bungalows sowie kleineren Hotelanlagen mit angeschlossenen Restaurants und Cafés führt. Eines davon heißt Kosmos, kyrillisch geschrieben, KOCMOC also, und das Logo ist ein mit Gabel und Messer bewehrtes Alien. Na, das will doch mal genauer inspiziert sein! In der Tat – das Kaffeehaus ist mit Referenzen an die Raumfahrt gespickt, Fotos der Weltraumfahrer, moderne Space-Kunst und auch ein Zitat eines Fünfjährigen zum Thema „Schön ist es, Kosmonaut zu sein“:

 

Mama, wenn ich groß bin, werde ich Kosmonaut. Wenn ich dann eine Frau habe, wird sie mir dauernd sagen: Sauge Staub! Räume auf! Geh einkaufen! Aber ich kann nicht... Ich bin im Kosmos!“

 

Angeblich soll die erste Frau im Weltall, Walentina Tereschkowa, dort in der Gegend einen Strandurlaub verbracht haben. Doch heute waren weder Kosmonauten noch sonst wer zu Gast, außer zwei Anzugträgern die sich in Investorensprech übten.

 

Häädemeste.
Häädemeste.