Kurische Nehrung.
Kurische Nehrung.

Trečiajas Skyrius – Lietuva

Die Schönheit des alten Memel nehme ich nur noch am Rande wahr. Sehe kaum das große Segelschiff, ein Wahrzeichen im Zentrum der Stadt, habe keinen Blick für die Jugendstilhäuser übrig, denn mein Ziel ist die Fähre auf die Nehrung. Tunnelblick.

Auf der Nehrung angekommen geht es nach Nidda, der Thomas-Mann-Stadt, und der einzigen, die einen Campingplatz hat. Die Sonne scheint abendlich-golden durch die Kiefern, und wenn der Baumreigen durch eine Lichtung unterbrochen wird, sieht man die Memeler Hafenskyline aus wuchtigen Kränen, Terminals und Schiffen. Mit wachsender Entfernung von Klaipėda wird der Wald dichter, das Ufer entfernt sich von der Straße. Und dann: Mautstelle. 5€ pro Mopped mögen noch angehen, doch was müssen sich all die Holländer in ihren Wohnmobilen denken, wenn ihnen 15€ und mehr abgeknöpft wird? Dennoch ist das fair – es ist ein Nationalpark, und das darf ruhig Eintritt kosten.

Beunruhigend ist aber etwas anderes: Bis Nidda sind es noch über 75km, und es sind weit über 300km seit der letzten Tankbefüllung vergangen. Die Fähren zurück in die Stadt fahren nicht mehr, zu spät, und nirgends ein Hinweis auf eine Tanke. Tempo 60 sind angesagt, im 6. Gang, 3000 U/Min. Halten. Nicht hochdrehen. Noch 64km. Noch 35. Noch 18... Es ist nach 22 Uhr, als ich Nidda erreiche, und das erste Schild im Ort bringt die Erlösung: Tankstelle in 3 km. Wie verabredet stottert der Motor los, ich schalte auf Reserve. Gerettet! Der Sprit kostet 10 Cent pro Liter mehr als auf dem Festland, egal, morgen dann tanken, jetzt erst einmal Zelt aufbauen und im Kiosk ein Pils kaufen.

 

Die gesamte Stecke von Klaipėda bis Nidda war ich weitgehend allein unterwegs, und so nährte ich die Hoffnung, der Zeltplatz wäre nur mäßig belegt. Nein. Er war brechend voll, und kaum ein Plätzchen für Motorrad und Einmannzelt. Auch der Kiosk war zu, kein Bier, kein Eis. Also Esbitkocher angeschmissen und Kräutertee gemacht und die Caravannachbarn aus Recklinghausen um ein Bier angeschnorrt, doch sie wollten meinen artig gezückten Euro nicht annehmen. Also legte ich ihnen am nächsten Morgen, am

 

 

25.06.2016,

 

gegen sechs in der Früh, meinen einen ausgelesenen Roman auf die Campingmöbel, fing an zusammenzupacken und Frühstück zu machen. Während sich der Esbitkocher mühte, inspiziere ich den dicht bevölkerten Zeltplatz. Viele Caravans aus Nord- und Westeuropa, Radler, kaum Motorräder. Wobei eine Bikerclique aus Tschechien eine interessante Campingidee umgesetzt hatte: Ihre sechs Maschinen bildeten die Eckpfeiler ihrer „Moppedburg“, und über die Maschinen hatten sie mit Spanngurten eine riesige Plane gespannt. Darunter schnarchten sie friedlich ohne Platz- und Luftprobleme. Schöne Idee, doch was, wenn ein Sturm aufkommt, und die Plane samt Moppeds... Aua. Doch an Sturm erinnerte gar nichts in dieser siebenten Stunde des Tages, im Gegenteil, die Sonne briet einen jetzt schon medium-rare durch, und die gepanzerte Motorradhose wurde gegen ein Paar Jeans ausgetauscht. Gegen halb acht startete ich dann Richtung Tankstelle, ein Automat, der meine deutschen Karten nicht erkennen wollte. Gott sei Dank war Barzahlung eine Option. Mögen uns die schönen Scheinchen und das liebe Klimpergeld noch lange, den Plänen der Bankster zum Trotz, erhalten bleiben!

 

Stilisierte Sonnenuhr...
Stilisierte Sonnenuhr...
...mit heidnischen Baltenrunen
...mit heidnischen Baltenrunen

 

Nidda ist recht hügelig, aber dies ist natürlich weder auf Vulkanismus noch Bruchschollentektonik zurückzuführen. Die Kurische Nehrung ist eine einzige Riesendüne, und der wandernde Sand hat sich über die Zeit zu riesigen Hügeln aufgetürmt. Darauf wuchs dann so manch anspruchslose Vegetation, wie Kiefern und dergleichen, doch mit der Besiedlung wurden sie, wie immer ohne Sinn und Verstand, wenn Menschen ökonomisch aktiv werden, massiv abgeholzt und der Sand kam wieder in Bewegung. Seit reichlich hundert Jahren nahm man im Kampf gegen den Flugsand eine planmäßige Wiederaufforstung vor, und bekam dadurch die Wanderdünen soweit in Griff, dass man sie sogar kaum noch zu sehen kriegt. Außer am höchsten Punkt von Nidda – dort offenbart sich einem in etwa 5 km Entfernung die überwältigende Landschaft von Dune, dem Wüstenplaneten! Doch ach, leider kann man dort nicht hin, denn dieser Ausbund an Wildheit liegt in Russland. Die Grenze verläuft kurz hinter Nidda. Ihr Anblick ist befremdlich, Wachtürme, Uniformen. Schengen ist schon ein zivilisatorischer Siebenmeilenfortschritt. Und ein Straßenschild verkündet, dass es bis Königsberg, sprich Kaliningrad, nur noch 86km seien. Keine Hundert! Ja, das ist schon ordentlich weit weg vom heimatlichen Kerneuropa.

 


Thomo-Manno-Namas Nidoje -- Das Thomas Mann Haus in Nidda
Thomo-Manno-Namas Nidoje -- Das Thomas Mann Haus in Nidda

 

Niddas Erscheinung ist von liebevoll hergerichteten Holzhäuser geprägt, Datschen wie Paläste. Die meisten von ihnen sind Ferienunterkünfte. Das Thomas-Mann-Haus, gerade geschlossen, steht weit oben auf einem Dünenberg. Der Autor genoss bestimmt einen schönen Ausblick auf die Ostsee, jetzt sind die Bäume größer geworden und geben dem Haus erst recht den Charakter eines Refugiums.

Die Nehrung ist auf jeden Fall sehenswert; man sollte dort vielleicht mehr als nur eine Nacht auf dem Zeltplatz verbringen und ausgiebig wandern gehen. Und doch: Statt unberührte Natur zu erleben wird man mit einer entwickelten Tourismus-Infrastruktur konfrontiert. Wahrscheinlich ist es heute in selbst in Patagonien nicht anders: Statt der Elemente der Natur gibt es Backpacker-Gringos im Schock.

 

Die Landschaft auf dem Weg von Klaipėda auf der 141 nach Šilutė ist nichts für das touristische Auge. Plattes Land, Industrielandschaften, teilweise in Betrieb, teilweise verlassen, recht dichter Verkehr, den Memeler zieht es in die Sommerfrische. Die Sonne knallte immer heftiger herab, und so zog ich die gepanzerte Motorradjacke auch noch aus. Fahren in Jeans und Hemd bei 30° und Knallesonne macht Spaß. Welch Leichtsinn, wird die Safety-Fraktion nun aufstöhnen. Nun ja... Die beste Kombi hilft natürlich im Falle des Falles, der aber hätte womöglich nicht einzutreten brauchen, hätte man sich nicht seine sieben Sinne mittels Hitzestau in Plaste, Elaste und Leder garkocht, oder?

Etappenziel heute: Druskininkai, südlichster Punkt der Reise, für Musikfreunde mit dem Namen des Komponisten und Malers Mikalojus Čiurlionis verbunden, für Naturfreunde ein Sehnsuchtsort für Wanderungen und Wassersport, für Ostalgiker befindet sich der berühmte Grūtas-Skulpturenpark in der Nähe. Doch bis dahin sind es mal wieder mittlere dreistellige Kilometerwerte.

 

Diverse interessante Details liegen auf dem Weg, wie ein altes Hotel, wo noch auf deutsch kaum lesbar „Preußischer“ oder „Deutscher Hof“ gestanden haben muss. Interessant, dass diese Fassade die Sowjetzeit überstanden haben muss.

 

Bei Tauragė, also Tauroggen, erinnert ein massiver Gedenkstein an jene Konvention, auf der im Winter 1812 preußische und russische Generäle das weitere Vorgehen gegen Napoleon berieten.

 


 

Nach dem Reinfall mit den kleinen „romantischen“ Landstraßen in Lettland, die urplötzlich zu Schottermonstern mutieren, werden fortan ausschließlich die nummerierten Kraftfahrtwege benutzt, denn auch in Litauen sind unbefestigte Straßen gang und gäbe. Entspannt cruisend, sofern das mit einer CB500 möglich ist, führt mein Weg durch das träge im Samstagnachmittag-Koma daliegende Marijampolė, einem größeren Wirtschaftsstandort Litauens. Die Verkehrsführung offenbarte sich als gänzlich anders als auf den veralteten Karten vermerkt, was dem Ausbau der Via Baltica, die durch diesen Ort führt, geschuldet ist. Und so stocherte ich mal durch diese, mal durch jene Straße und verliere ordentlich Zeit.

 

 

Der Abend schritt fort, ich war durchgeschwitzt, des Fahrens überdrüssig und suchte nach dem nächstbesten Zeltplatz. Fand einen an einem See. Wurde nicht draufgelassen – Privatparty, Hochzeit mit allem was dazugehört: Fotografen, massig Gäste, der Parkplatz voller SUV, Champagnersklaven. Oh je.

Laut Reiseführer gab es aber ein Camping direkt in Druskininkai, doch trotz üppiger Ausschilderung touristischer Highlights fand sich erst nach einer längeren Stadtrundfahrt ein Hinweis darauf. Ich ritt dort ein, latzte 8€, baute mein Zelt auf und begab mich nach einer dringend nötigen Duscharie umgehend ins kleine Restaurant, um ordentlich Schaschlyk zu essen und lokales Bier zu trinken.

 

Das Essen war lecker, das Bier auch, und so kam ich mit dem Inhaber ins Gespräch. Er diente noch in der Sowjetarmee in Perestroika-Zeiten, was den Vorteil hatte, dass die Rekruten, so sie nicht nach Afghanistan, in die DDR oder andere Stützpunkte geschickt wurden, in relativer Nähe zu ihrer Heimat dienen durften – er in Weißrussland. Nach seinem Dienst nahm er an der Autonomiebewegung teil. Die neue Zeit, sagte er, ist nicht das Paradies, aber er ist froh dass es so gekommen ist.

 

Trotz fortgeschrittener Stunde kamen zwei junge Mädels, Mitte Zwanzig, mit Bier, Wein und einem Grill aus ihrer Campinghütte und so setzte ich mich zu ihnen. Die eine war Barkeeperin in Kaunas, ihre Freundin Sozialarbeiterin. Wir quasselten noch ein halbes Stündchen über dies und das, Smalltalk, Musik, Kunst, Sommer, Sonne, Heiterkeit, aber auch über das Geld, das kaum reicht, über das Dasein als Freiberufler. Über Russland, von dem man nicht weiß, was man davon halten soll. Über Familienmitglieder, die eine Weile in Deutschland ihr Glück versucht hatten, dort als ausgebildete Maschinenbauingenieure keine, aber als Gas-Wasser-Scheiße-Handlanger schlecht bezahlte Arbeit hatten und darüber hinaus dermaßen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, auf dass sie lieber enttäuscht in die heimatliche litauische Arbeitslosigkeit zurückkehrten. Abschließend sorgte ich noch für Heiterkeit, als ich ihren Alibi-Gurkensalat vor dem Müll bewahrte und auffutterte. Haha, typisch Westeuropa, Salatfresser!

 

 

26.06.2016

 

Marty, hast du schon wieder in deinen Klamotten gepennt?“ Ja, hatte ich. Ich bin wohl wie ich war in Jeans und Flanellhemd auf die Matte gefallen und war gleich weg. Und ich hatte einen leichten Schädel. Von nur vier Bier und trotz reichlichem Essen! Auf dem Etikett der Bierflaschen stand, dass das Gebräu 7,2% Alkohol hatte. Oha. Fortan werde ich penibel darauf achten, leichtes Bier zu konsumieren, und in der Tat – die Vielfalt der baltischen Biersorten, eine leckerer als die andere und damit weit vom deutschen Einheitsgeschmack entfernt, kennt die Abstufung von 3,9% bis hin zu über neun Prozent. Also Augen auf beim Bierkauf!

 

Der Rote im Grünen.
Der Rote im Grünen.

Der Grūtas-Skulpturenpark. Die „Linken“ sagen dazu: Das ist eine Verscheißerung der sozialistischen Idee! Die „Rechten“: Das ist ein Hohelied auf den verbrecherischen Stalinismus! Unbestritten: Man kann es so oder so oder auch ganz anders sehen. Der Geschäftsmann Viliumas Malinauskas trug über Jahre die steinernen Insignien der Sowjetmacht zusammen – Leninbüsten, Stalindenkmäler, Gedenksteine für die ruhm- und siegreiche Sowjetarmee, Skulpturen einheimischer Helden des Kommunismus und sonstige Werke des sozialistischen Realismus. Auf 20 Hektar stehen sie scheinbar chaotisch in der Geografie herum. Am Eingang steht eine dörfliche hölzerne Agitationsbühne, überspannt von kommunistischen Kampfsprüchen in litauischer Sprache. Aus einem stilechten Druckkammerlautsprecher quäkt sowjetische Filmmusik und Arbeiterlieder.


 

Einen großen Teil nimmt ein Museum ein, ebenfalls wie eine Dorfbibliothek gestaltet, wo an die gefälschten Wahlen zum Obersten Sowjet des nunmehr sowjetisch besetzten Litauens nach dem 2. Weltkrieg erinnert wird, mittels derer die Okkupation des Baltikums „legalisiert“ werden sollte. Ein weiteres Museum auf dem Gelände zeigt Kurioses – großformatige sowjetlitauische Kunst wechselt sich mit neueren Gemälden ab, auf denen die Vordenker und Funktionäre des Kommunismus verspottet werden: Karl Marx als Guru, Lenin als Hipster. Und, anscheinend zusammenhanglos, dazwischen eine sehr umfangreiche Sammlung von Kitsch und Zeugs zum Thema Olympiade '80, die in der UdSSR stattgefunden hatte und von den Westmächten wegen des Einmarsches in Afghanistan boykottiert wurde.

 

Der Wanderweg um das Gelände wird von GULAG-Wachtürmen flankiert, aus deren Lautsprechern ebenfalls sowjetische Marschmusik erklingt. Zu guter Letzt gibt es einen Zoo, wo sich Lamas an einem Leninschädel reiben und ein Braunbärengehege, wo die Meister Petze im Wasser plantschen und sich mit ihren Tatzen bearbeiten. Der ganze Park ist eine einzige Ironie, dennoch kein Klamauk, und es werden keine rachsüchtigen antirussischen Ressentiments herausgekehrt. Sehenswert. Wer will, kann sich reichlich mit Souvenirs eindecken. Ich kaufe jedoch nur ein Eis und einen großen Pott Kaffee und setze danach umgehend die Segel nach Norden, hoffentlich an Vilnius vorbei, zum geografischen Zentrum Europas, wie 1989 von französischen Geografen ermittelt.

 

Baltische Hasienda. Chic.
Baltische Hasienda. Chic.

 

An Vilnius vorbei geht es doch nicht, alle Wege führen dahin. Und der Sonntagsrückreiseverkehr ist heftig. Und schwere graue Wolken türmen sich am Horizont, Wetteronline sagt „Land Unter“ voraus. Also – Zwischenstopp. Nur wo?

 

Trakai. 15 Kilometer westlich der heutigen Hauptstadt befindet sich die ehemalige Kapitale Litauens, mit der Wasserburg im Galvė-See. Touri-Hochburg und bestimmt mit Campingplätzen gesegnet. Bingo. Ich miete mir für 20€ einen Holzbungalow für gleich zwei Tage, um den geplanten Wolkenbrüchen heute Nacht und morgen trockenen Fußes zu entgehen. Doch Schreck: Die Hütte ist saunaheiß, nachdem die Sonne tagelang draufgeknallt hatte, und es gibt keine zu öffnenden Fenster – nur ein kleines Glasquadrat zum Ankippen! An der Rezeption fragte ich, ob ich etwas übersehen hätte. Nein, das isso. Das war einst ein Pionierferienlager, und die Kinderchen sollten nicht aus den Fenstern klettern. Tja nun. Obwohl die Mücken auch hier fleißig herumschwirrten, ließ ich es drauf ankommen und öffnete alle verfügbaren Türen zwecks Durchzug und machte mich auf den Weg zum Supermarkt, Abendessen einzukaufen: Salat von der Salatbar, irgendwas mit Rote Bete und Fisch, Kefir und salziges Mineralwasser der Marke Vytautas. Gesegnet seid ihr, die ihr keinen deutschen Ladenschluss kennt!

 

Von der kleinen Anhöhe, wo die Bungalows standen, eröffnete sich ein feldherrenmäßiger Überblick auf das ganze Campingareal. Aber viel spannendes passierte nicht, außer, dass eine niedersächsische Renault-2CV-Ente ankam, auf dem Dach ein riesiges Bündel, das sich als Dachzelt herausstellte. Trés chic, trés retro. Mit fortschreitender Dämmerung nahm auch der Mückenterror zu und ich entschloss mich in die heiße Bude zurückzuziehen. Im Lichtkegel meiner Taschenlampe verfing sich ein Frosch, der sich derart ertappt, tot stellte. Dergestalt ließ sich der Lurch aus nächster Nähe eingehend inspizieren, denn normalerweise ergreifen ja die Biester quakend die Flucht, wenn man ihre Kreise stört. Dann raschelte etwas in der Nähe, und die Umrisse eines Bibers wurden sichtbar. Biber? Nein, eine adipöse Ratte mit einem BMI von mindestens 80. So hatte ich meinen kleinen Privatzoo, eine sympathische Amphibie, einen widerlichen Nager und Millionen nervender Insekten um mich herum.

 

Trakai. Wasserschloss.
Trakai. Wasserschloss.

 

 

27.06.2016

Über Nacht ist die Hitze durch alle Ritzen entwichen. Es war kühl, bedeckt und nieselte ganz leicht. Hoffentlich greift die Siebenschläferregel im Baltikum nicht...

 

Nach einem gemächlichen Frühstück hörte das Getröpfele dankenswerterweise auf, und es ging ab nach Trakai, der alten Hauptstadt Litauens. In Trakai gibt es eine ethnologische Besonderheit: Die Fürsten warben damals im 15. Jahrhundert aus Südeuropa Karäer an, einem Turkvolk, zum Zwecke einer Palastwache, ähnlich der Schweizer Garde im Vatikan. Die Elitetruppe wurde direkt in der Stadt angesiedelt, und ihre Häuser sind auch heute noch leicht zu identifizieren: Holzhäuser, die mit der dreifenstrigen Giebelseite zur Straße stehen. Die Karäer habe natürlich ihre Bräuche und ihre Esskultur mitgebracht, und so sind beispielsweise die Kybynlar, Teigtaschen mit verschiedener Füllung heute fester Bestandteil des litauischen Fast-Foods geworden. Das karäische Kulturzentrum mit angeschlossenem Volkskundemuseum hatte natürlich zu, schließlich war Montag, und so ging ich zum Wasserschloss, dort einmal drum herum und setzte mich dann auf der CB in Bewegung, um den bereits erwähnten Mittelpunkt Europas anzusteuern.

 

Bei Dukštos machte ich eine kleine Pause auf einem Waldparkplatz, der gar keiner war, sondern ein Freilichtmuseum traditioneller Holzschnitzkunst. Überall in Litauen fallen am Straßenrand Holzstelen auf, die heidnische Gottheiten, Szenen aus Märchen und dergleichen darstellten. Und hier gleich ein ganzer kleiner Park davon! Also schritt ich in den Wald hinein und betrachtete all die hölzernen litauischen Ureinwohner, darunter auch den sagenumwobene König Mindaugas I., der die litauischen Stämme einst im 13. Jahrhundert zu einem Protostaat vereinigte. Am Ende des Pfades lag ein größerer Stein, auf dem verblasste baltische Runen zu sehen waren – was sie zu bedeuten haben, werden die Altphilologen nicht mehr rekonstruieren können. Lediglich ein Kreuz konnte als Sonnensymbol identifiziert werden, wie es bei vielen alten Zivilisationen vorkommt.

 

Dukstos. Aus Holz geschnitzte litauische Märchen- und Sagenfiguren, hier als Spielplatzfiguren
Dukstos. Aus Holz geschnitzte litauische Märchen- und Sagenfiguren, hier als Spielplatzfiguren

 

Das „Europos Centras“ bei Purnuškes, etwa 50km nördlich von Wilna, besteht aus zwei Teilen: einem coolen und einem EU-aufgeblasenen. Der coole ist ein Findling, auf dem 1989 der Mittelpunkt Europas mittels Windrose bezeichnet wurde. Diese Windrose sieht fast genau so abgeschabt und verwittert aus wie das 1000-jährige Sonnenkreuz bei Dukštos. Der EU-aufgeblasene ist eine riesige Anlage, zur Aufnahme der Balten 2004 errichtet. Eine hohe Stele trägt die europäischen Sterne auf ihrer Spitze, eine riesige marmorne Windrose erstreckt sich auf dem Boden davor. Eine Art Amphitheater ist für allerlei Offiziöses vorgesehen, dahinter flattern die 28 Fahnen der EU-Mitglieder und das blaue Europabanner im Wind. Tja. Und wo ist nun der Mittelpunkt? Auf dem Findling, an der Stele, mitten im Marmor der offiziösen Windrose? Die Antwort könnte ja ein Infostand geben, aber er hat, genau so ist es, geschlossen. Dennoch kann man auf einer Infotafel lernen, dass diese aktuelle Definition Europas im Westen die Azoren und Madeira genau so einschließt wie im Osten das Uralgebirge, und dass die Koordinaten 54°54'N und 29°19' E lauten. Wikipedia hingegen vermerkt bissig, dass das alles Blödsinn sei, da es keine definierten Randpunkte Europas gebe, und alle das nur touristischer Selbstdarstellung diene. Vielleicht ist was dran – zumal das „Europazentrum“ mitten in einem Golfressort liegt.

 

EU-aufgeblasen.
EU-aufgeblasen.
Cool.
Cool.

 

Ein weiterer Skulpturenpark befindet sich in der Nähe, diesmal weniger sowjetironisch, sondern eher mit einer gehörigen Portion Schwitters und Dada aufgeladen: der Europapark – Europos Parkas, angelegt ab 1991 in kompletter Eigeninitiative vom damals 23jährigen Künstler Gintaras Karosas und seinen Mitstreitern. Man machte sich über ihn lustig, unterstützte ihn nicht, ließ ihn aber gewähren, und so ist ein 55 Hektar großes Areal entstanden, auf dem eine Reihe bildender Künstler aus aller Welt ihre Werke aufgestellt haben. Die erste Plastik auf dem Gelände überhaupt war eine nicht mal kniehohe Pyramide, die ebenfalls das Zentrum Europas darstellen soll. Hinzu kam über die Jahre so vieles andere, ein Wasser tragender Elefant, ein Riesensessel mit integriertem Pool, diverse hintergründige Plastiken. Ein Restaurant und ein Konferenzgebäude gibt es mittlerweile ebenfalls.

 

Eins der Exponate hatte es in seiner Urform ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft: Ein 3000 m² großes Labyrinth aus ausrangierten sowjetischen Fernsehgeräten, aufgestockt in vier Etagen, von oben betrachtet einen Baum ergebend. Am „Baumstamm“ lag eine Leninskulptur rücklings, den ausgestreckten, in die Zukunft weisenden Arm in den Himmel reckend. Doch die Enttäuschung ist groß, steht man heute davor: Vom Labyrinth ist kaum etwas übriggeblieben, nur ein Bruchteil der Gänge sind komplett mit den Fernsehern erhalten geblieben, von den anderen zeugen nur noch die nunmehr leeren Bodenschienen. Lenin ist armlos, kopflos und auch sonst völlig im Eimer und nicht mehr als solcher zu erkennen. Es könnte auch eine beliebige kaputte Gartenstatue sein. Sic transit gloria mundi, und, sei es drum, vielleicht ist das ja die Kernaussage, und das muss so, weil Kunst...

 

Reste des "LNK-Infobaums"
Reste des "LNK-Infobaums"

Der junge Mann an der Kasse saß nach meinem zweistündigen Erkundungsspaziergang immer noch da, und da er sich sichtlich langweilte, laberten wir ein bisschen. Er sei schon lange dabei, und an Sommerwochenenden wäre immer gut zu tun, aber auch im Winter wäre es besser als im Sommer wochentags, so wie heute, denn der Park schließt zum Sonnenuntergang, und da wäre er winters schon um vier zuhause. Außerdem sei er DJ und freue sich auf seinen Gig in einigen Tage auf dem im Baltikum etablierten Goa-Trance-“Tundra“-Festival, das leider aber zum letzten Male stattfände.

 

Der Rücksturz nach Trakai führte wieder durch Vilnius hindurch. Ich wollte ja keinesfalls in große Städte, aber es ließ sich partout nicht um den Preis eines über 100km langen Umwegs vermeiden. Am Stadtrand breitete sich ein modernes Grüne-Wiese-Shoppingparadies aus, und steckte ich meine Nase in einen Baumarkt. Deutsche Baumarktpreise sind wirkliche Apothekenpreise! Hier, in Wilna, kostete vieles nur einen Bruchteil. Eine Menge der Waren sind Importe aus Russland, groß, schwer, robust. Ich überlegte kurz ernsthaft, 6€ in ein Mörder-Vorhängeschloss mit dem vertrauenerweckenden Namen „Ehrlicher Schutz“ zu investieren, welches in der Heimat von ABUS und Konsorten locker das Sechsfache kosten würde...

 

Den Abend ließ ich vor meinem Bungalow mit reichlich Tee, Salat, Kefir ausklingen, die Abendsonne schien herrlich, der tags zuvor angekündigte Weltuntergang war ausgeblieben, und über den Galvė-See hinweg erfreute ich mich noch einmal des Anblicks der Wasserburg.

Galve-See. kurz vor Mitternacht
Galve-See. kurz vor Mitternacht

 

 

28.06.2016

 

Ignalina. Da wollte ich hin. Dort steht das Atomkraftwerk, das zu seinen besten Zeiten 70% des litauischen Strombedarfs geliefert hatte – jetzt nicht mehr, denn die EU-Mitgliedschaft war an die Bedingung geknüpft, die beiden Tschernobyl-Reaktoren bis 2009 abzuschalten.

 

Der Weg: Staatsstraße 102, die von Vilnius aus direkt in Ignalina anlandete. Entfernung: Keine 100km. Startzeit: 10h30. Wetterlage: warm und sonnig. Ideal.

 

Und so cruiste ich, sofern das auf einer CB500 geht, die 102 mit meinen 80-90 km/h entlang und ließ mich von allen überholen die es nötig hatten. Litauen, heißt es in der Statistik, sei das gefährlichste Land, was den Straßenverkehr angeht, denn obwohl die Straßen breiter sind und der Verkehr etwas weniger dicht, fährt in Ermangelung eines Autobahnnetzes alles über Land. Und so wird gnadenlos überholt, wo es geht, und wo es nicht gehen sollte. Dabei sieht man die Konsorten so knapp vor dem Gegenverkehr einscheren, dass einem Angst und Bange werden kann. Auch scheint es, dass ein Tempolimit-Verkehrsschild keine Geschwindigkeitsbegrenzung anzeigt, sondern die Prozentzahl, mit der man dieses Limit mindestens zu überschreiten hat. Aber – nirgends hat mir einer einen Vogel gezeigt, ob ich nun zu langsam oder einfach desorientiert unterwegs war. Das kam dann, zurück in Deutschland, gleich auf den ersten 20 Kilometern, selbstredend...

Pabrade.
Pabrade.

Nach einer Kaffeepause in Pabradė in einem Café mit dem schönen Namen „Londonas“, dessen Logo dem der Londoner Tube nachempfunden, ging es sehr entspannt weiter, und es hätte ruhig so bis Ignalina bleiben können. Doch nein, eine Straßensperrung nebst Umleitung wurde aufgezeigt. Nun ist man ja schon in D an dergleichen sattsam gewöhnt, und ich tendiere mittlerweile dazu, wenn mit Motorrad unterwegs, diese Umleitungen zu ignorieren und, pöhse-pöhse, direkt über die Baustelle zu schleichen, vielleicht einen vorhandenen Rad- oder Fußweg zu benutzen, oder, vorbildlich, ein paar Meter zu schieben – meist wirklich kein Problem, denn in Deutschland scheinen ja eh nur ein gefühltes Zehntel der Baustellen in Betrieb zu sein. Nicht so im Baltikum. An jeder Baustelle, die ich passierte, wurde gearbeitet, und an dieser hier ging es wohl um eine Grundsanierung, also wirklich kein Durchkommen, und die Bauarbeiter schauten schon grimmig. Da blieb nichts anders übrig, als die offizielle Umleitung zu nehmen. Tja, und die führte über ein unendlich erscheinendes Dutzend Kilometer der übelsten Schotterpiste, schlimmer, als die am ersten Tag in Lettland. 30-Zentimeter-Waschbrett ohne Unterlass, Steine, Sand. Und der ganze LKW-Verkehr dazu. V-max = 25km/h und bald sehen Ross und Reiter aus wie aus einem Kalkfass gekrochen...

 

Zurück auf der Magistrale tauchten auch bald schon die ersten Schornsteine von Ignalina auf. Der hier, der ist aber mickrig. Und der da, ist zwar rot-weiß gestreift, wie in Tschernobyl, aber irgendwie auch nicht wirklich beeindruckend. Am Busbahnhof der Stadt rannte ich also schnurstracks in die nächstbeste Trinkhalle, erstand Eis und Kaffee und fragte die Dame hinter dem Tresen, wo denn das AKW sei, wir sind doch in Ignalina, oder? Sie sah mich an, als ob ich ein Alien vom Mars wäre. Ob ich denn nicht wüsste, dass hier der Nationalpark von Aukštaitija sei und kein Platz für eine Atomschleuder? Diese befinde sich 65km weiter, in Visaginas.

 

Aukštaitija Naionalpark, Paluše.
Aukštaitija Naionalpark, Paluše.

 

Drei Kilometer außerhalb von Ignalina, im Dorf Paluše, gab es, versteckt hinter der Holzkirche St. Joseph, für deren Errichtung um 1750 kein einziger Nagel benötigt wurde und die damit ein architektonisches Highlight der Region darstellt, einen anspruchslosen Campingplatz mit Küche und Dusche. Das AKW und was sonst noch in der Gegend zu sehen wäre, musste bis morgen warten, wobei auch dieser Trip eine Rundreise werden sollte, ohne das elende Gepäck auf dem Bock, und ich buchte mich wieder für zwei Tage ein.

 

Auf dem Zeltplatz baute gerade ein älteres tschechisches Pärchen auf, und mein höflich radegebrochenes „Ahoj, jak se mate?“ provozierte einen erfrischenden Schwall böhmischer Wortkaskaden. Wir einigten uns auf deutsch und ich erfuhr, dass der Herr einst oft als Vertreter der ČSSR im damals sowjetischen Baltikum in Wirtschaftsfragen unterwegs war, sich seitdem in diesen Landstrich verliebt hatte und nun, als Pensionär, regelmäßig hier zu urlauben pflegte.

 

In der Küche kochte der Besitzer eines museumsreifen Toyota Corolla mit deutschem HB-Kennzeichen seinen Tee, ein Umweltexperte der Uni Bremen. Interessant festzustellen, dass er, verkürzt wiedergegeben, kein Leugner des Klimawandels ist, ganz im Gegenteil, aber keinesfalls die breitgetretene CO2-Hysterie und ähnliche medienwirksame Teilaspekte als dessen Hauptgrund sieht. Der wahre Klimawandel liege nämlich erstens im globalisierten Kapitalismus begründet, dessen Wertschöpfungsmaxime die Produktion von kurzlebigen Billigprodukten fördert, welche dann rund um den Globus geshippert und geflogen werden, um alsbald kaum recycled weggeworfen und postwendend ersetzt zu werden; zweitens, im dadurch beschleunigten Artensterben, was Ökosysteme nachhaltig aus der Balance wirft und dass auch die, drittens, als Allheilmittel gepriesene Elektromobilität, neben energetisch-ökologisch-technologischen Problemen der Produktion incl. Recycling, über kurz oder lang zu einem Mangel an Rohstoffen die für die Akkus führen werde, ganz zu schweigen von geo- und wirtschaftspolitischen Implikationen, ganz ähnlich also denen des heutigen Ölzeitalters, und der einzige Weg sei das klassische Wachstumsmuster zu durchbrechen.

 

Nachdenklich betrachtete daraufhin ich meinen kleinen Vorrat an Bier in ökologisch unkorrekten Dosen, wägte ab und befand ihn schlussendlich in Form und Inhalt dann doch für gut und richtig.

 

Am nächsten Morgen wechselte ich mit der Pächterin des Zeltplatzes ein paar Worte, sie erzählte, dass das Gelände früher auch ein Pionierlager gewesen war und dass eigentlich dieser Campingplatz viel schicker hätte sein müssen, dass ordentlich Mittel geflossen seien, aber außer dem Rezeptionshaus nebst Küche und Sanitäranlagen sowie ein paar Steckdosen für die Caravans sei herzlich wenig passiert. Wahrscheinlich habe sich wieder jemand die Tasche vollgehauen, vielleicht aber soll der weitere Ausbau später erfolgen, irgendwann. Ich hingegen fand die familiäre Anspruchslosigkeit des „Kempingas“ völlig okay.

Der milde Morgen, die leeren Straßen, asphaltiert, steigern die Stimmung nachhaltig. Wald und Seen wechseln sich ab. Hier ist der südliche Zipfel jener Seenplatte, die sich in einem schmalen bescheidenen Band nordwärts über Lettland, Weißrussland und Estland zieht, von der Ostsee unterbrochen wird um dann im finnischen „Land der tausend Seen“ den Höhepunkt ihrer Ausprägung zu finden.

 

Halt an einem winzigen Dorfladen – Eis! Die Eisbecher sind in Lettland und Litauen, so nicht gerade von Langnese & Co., in sowjetischer Tradition gehalten, wenn auch um exotische Geschmacksrichtungen erweitert. (In Estland wurde diese harmlose Reminiszenz an die frühere Besatzungsmacht allerdings leider weitgehend abgeschafft.)

 

Gegenüber des Lädchens steht ein Holzhaus, super in Schuss, mit Liebe hergerichtet, mit zahllosen Blumen verziert. Kaum zu glauben, dass in dieser Märchenhütte ein grummeliger Opa wohnt, denn als ich seine floristischen Kreationen begutachte, tritt er zur Tür hinaus und erdolcht mich mit seinen Blicken.

 

Des Grummel-Opas Märchenhaus.
Des Grummel-Opas Märchenhaus.

 

Molėtai ist eine kleinere Stadt, aber mit einer großen katholischen Kirche im Stadtzentrum, vor der ein hügliger Friedhof angelegt ist, der entfernt an den Montmartre erinnert. Litauen ist erzkatholisch, was in der polnischen Herrschaft im späten Mittelalter begründet liegt, jedoch machen die Kirchen selbst eher einen spanisch-lateinamerikanischen Eindruck. Auf der Hauptallee von Molėtai gibt es eine Bäckerei, einen Lebensmittelladen, eine Änderungsschneiderei, einen Friseur. Auf den Bänken vor dem Dorfkonsum sitzen ein halbes Dutzend hagere Männer um die Mitte dreißig und haben schon das eine oder andere hochgeistige Getränk im Kopf. Immer traurig, aber dieser schöne frische Vormittag kontrastiert dann doch zu stark mit dem Anblick jener hoffnungslosen Menschen.

 

Nächstes Etappenziel: Utena, die Bierstadt, deren Brauereiprodukte ich bereits kennen- und schätzengelernt habe – Topfavorit: „Utenos Dark“, ein Schwarzbier, das nach frisch gebackenem Roggenrot riecht und auch so schmeckt. Nach Utena führt die A14, eine Hauptverkehrsader, voll mit Lastwagen, und zudem in einem erbärmlichen Zustand. Doch schon bald erschien ein Schild, das auf das Ethnokosmologische Museum hinwies. Allemal ein willkommener Grund, dieses Grauen aus löchrigem Beton zu verlassen, aber was darf man sich denn darunter vorstellen? Klingt jedenfalls nach Unendlichen Weiten, und schon fliegt das Raumschiff CB500 mit einem Mann Besatzung auf dreiwöchiger Mission durch den Baltischen Quadranten eben dahin.

 

Und tatsächlich – über den Baumwipfeln schien ein silbernes UFO zu schweben. Es entpuppte sich als die Aussichtsplattform hoch über dem eigentlichen Museum, welches seinerseits wie ein zweites, gelandetes, UFO aussah. Und was ist nun Ethnokosmologie? Man kriegt gezeigt, wie schon in der Steinzeit Menschen den Himmel, Sonnenstand, Jahreszeiten beobachteten, Kalender in Steine hauten oder auf Holzblöcke oder Bretter schnitzen und den Ackerbau danach ausrichten. Dann geht es um Geschichte der wissenschaftlichen Astronomie, die Raumfahrt und bis hin zu SETI. Auf der Aussichtsplattform der oberen Untertassensektion gab es eine Ausstellung mit esoterischem Touch, Steine, Mineralien, Meteoriten und Kunstwerke daraus, sowie ein kleines Observatorium. Im Garten des Museums gab es ein kleines, á la Stonehenge angelegtes, Objekt entdecken, zudem ein Ensemble litauischer Holzfiguren, ebenfalls kosmologisch konnotiert.

 

Ethnokosmoloisches Museum Moletai.
Ethnokosmoloisches Museum Moletai.

 

Utena ist eine normale Industriestadt, und die Bierfabrik befand sich auf einem großzügigen Industriegelände. Jedoch wies nichts auf einen Fabrikverkauf hin, und eine Führung hätte man vorher anmelden müssen. Voranmeldungen sind aber ein Graus für den Spontanreisenden, und außerdem dürften sich doch alle industriellen Brauereien mehr oder minder gleichen. Deshalb ging es nach kurzem Tankstopp weiter zum Highlight des Tages, nach Visaginas, zum „Ignalinos Atominė Elektrinė“, dem Atomkraftwerk, Sehnsuchtsort aller Umweltzyniker.

 

Glücklicherweise mündete die grauenhafte A14 in die noch größere, aber weniger stark befahrene A6, die sich mit einer hervorragenden Asphaltdecke auszeichnete, und so ging es zügig Richtung Zarasai an der lettischen Grenze, von wo die Straße nach Visaginas abging. Für die Anfahrt des AKW nahm ich dann nicht die Hauptstraße, sondern fuhr einen Bogen, Visaginas links liegen lassend, am Druksiai-See entlang, an dessen Ufer des Kraftwerk errichtet wurde, um es adäquat mit Kühlwasser versorgen zu können.

 

Schon der erste Anblick des schlafenden Nuklearriesen war überwältigend. Schnurgerade führte eine Straße auf das Hauptgebäude zu, welches von den beiden Reaktortürmen flankiert wurde. Als ich dann davorstand... Der menschliche Geist ist zu vielem fähig. Er entreißt der Natur ihre Geheimnisse, versucht sie zu verstehen, macht sie sich nutzbar. Und leider liegt es in der menschlichen Natur, bestenfalls nachlässig, aber meist von materieller Gier und Gier nach Macht getrieben und von sozialem Duckmäusertum gezeichnet zu sein. Deshalb hat es Tschernobyl das Dach des 4. Blocks weggesprengt, in Fukushima ist bis heute nicht klar, was da eigentlich passiert ist. Deshalb verbrannten nicht nur Hiroshima und Nagasaki, sondern auch das Bikini-Atoll und Nowaja Semlja. Die Atomenergie, als bislang faszinierendste Naturgewalt, die der Mensch nutzbar machen wollte, hat mehr sichtbares Leid als alltägliche Segnungen im kollektiven Bewusstsein der Menschheit hinterlassen. Deshalb ist „Atomkraft? Nein, danke!“ eine durchaus legitime Forderung.

 

Der erste Anblick des IAE
Der erste Anblick des IAE

 

Doch wenn man vor diesem Koloss steht, kann man, kann ich, nicht anders, als Hochachtung vor allen, die solch eine Hochtechnologie zum Laufen gebracht hatten, zu empfinden. Hochachtung vor Grundlagenforschung und Wissenschaft. Hochachtung vor den Ingenieuren, die das Ding hingebaut haben. Hochachtung vor den Arbeitern und Angestellten, die solch eine Höllenmaschine zu bedienen wussten. Und das weniger aus einem 50er-Jahre-Fortschrittsglauben heraus, sondern weil das Streben nach Wissen zum Menschsein dazugehört. Dazugehören sollte. Wenn all das ideologisch verdammt und unterbunden werden soll, setzt alsbald Degradation ein. Und sind wir nicht schon in diesem Verfallsprozess begriffen? Schulabgänger, die kaum schreiben und rechnen können, die machtvolle Rückkehr misogyner Religionen wie Ideologien sowie andere Entwicklungen unseres frühen 21. (!) Jahrhunderts – all das kann einen ebenso pessimistisch stimmen wie der Gedanke an einen atomaren GAU.

 

Der Vorplatz des Kraftwerks: ein halbvoller Parkplatz, Betonkübel mit lauter bunten Blümchen darin, diverse Schautafeln, aber leider nur in Landessprache. Am Eingang des Hauptgebäudes, hinter der Flügeltür, fläzen sechs-sieben Vierschrote und eine Vierschrötin in voller Kampfmontur mit Knarre und mustern den staubigen Moppedpiloten. Auf sein verschämtes „Labas vakaras? Good evening? Dobry wetscher?“ lachen sie los und sagen „Dobry wetscher, dobry wetscher!“ Also wird die Sicherheit eines (wenn auch stillgelegten) AKW im NATO-Staat Litauen bewaffneten Russen anvertraut. Welch Ironie! Nein, nach einer Führung braucht du hier nicht zu fragen, sagen sie, geh mal ins Nebengebäude, da sitzt die Direktion. Obwohl heute ein Wochentag und gerade kurz vor fünf, ist, jawoll, zu.

 

Ich starte das Mopped und fahre noch einige Kilometer (Kilometer!) auf dem öffentlich zugänglichen Gelände umher, näher an einen der beiden eingeschläferten Reaktorblöcke heran. Das Gefühl der Überwältigung will nicht weichen, ich könnte das ganze noch eine Weile auf mich wirken lassen, doch es steht noch ein langer Rückweg bevor. Ich sehe beim Wegfahren mehr in den Rückspiegel als auf die Straße, doch glücklicherweise war ja Feierabend und es gab keinen Gegenverkehr zu übersehen.

 

Vorplatz des IAE mit CB500 und...
Vorplatz des IAE mit CB500 und...
... mit Blümchen
... mit Blümchen

 

Die Hauptstraße nach Visaginas ist eine echte Sowjetallee, breit, vierspurig, doch ist sie nicht zu Repräsentationszwecken so angelegt worden, sondern als „Evakuierungsweg“, um größeren Durchsatz zu ermöglichen. Und endlos ziehen sich mannshohe Pipelines am Straßenrand, Versorgungs- und Entsorgungsleitungen. Visaginas ist eine typische Malochercity, wo Menschen leben, die für den einen Großbetrieb der Region arbeiten. Plattenbauten ohne Ende, kein richtiges Zentrum.

 

Auf derselben 102, die in Vilnius ihren Anfang nahm, nur jetzt von ihrem anderen Ende, geht es „heim“. Sie führt durch Wälder, Wälder und Wälder. Kein Mensch auf der Straße. In Ignalina angekommen beschließe ich spontan, da es grade erst kurz nach halb acht ist und der Abend so lau und sonnig, bis zur weißrussischen Grenze zu zu fahren. Jene steht ebenfalls „gut ausgebaut“ da, Zäune, Wachtürme, das ganze Gedöns, aber nicht ganz so martialisch wie in Nidda.

 

Ein Motorradfahrer auf einer Yamaha FZ6, mit freiem Oberkörper, bekleidet nur mit Badeschlappen und Turnhose, sieht deutsches Nummernschild und quasselt mich nach einem kurzen „How are you?“ gleich auf russisch zu. Ob ich nach Weißrussland wolle? Nein. Dann vielleicht mal eine Runde drehen und ein Bierchen dazwischen? Keinesfalls (denke ich). Na ja, (sage ich), aber ich fahre jetzt Richtung Ignalina, vielleicht machen wir dahin ein paar Kilometer zusammen, und kein Bierchen, njet. Schade, aber was machst du hier? Litauen anschauen. Ach, Litauen ist scheiße, ich wohne zwar hier, will aber weg, weiß nur noch nicht wohin, jetzt habe ich ja den EU-Pass, aber was nützt mir das schon, Kohle hab ich eh keine, Russland und Weißrussland sind auch scheiße, dort ist alles zwar viel billiger, aber wir können da nicht hin, brauchen ja jetzt als „NATO-Feinde“ ein Visum, echt scheiße ist das. Was machst du so? Dies und das, nee, ist nicht doll hier, na schön, nächste Kreuzung muss ich ab, heim, die Frau wartet schon. Vielleicht hätte ich doch ein Bierchen mit ihm trinken sollen...

 

 

30.06.2016

 

In Ermangelung anderer asphaltierter Straßen geht es denselben Weg wie gestern, via Visaganas, nordwärts, und eigentlich gäbe es nichts neues zu entdecken, und doch fällt ein Detail auf: Die Brücken über die Eisenbahntrassen erscheinen überdimensioniert, wie auch die Bahndämme als solche. Genauerer hingeschaut sieht man, dass einst zwei Schienenstränge existiert haben, und einer davon abgebaut wurde. Eine rabiate Methode, sich dem rückläufigen Schienenverkehrsaufkommen anzupassen. Das passt ins postsowjetische Bild – verlassene Industriekomplexe, halbierte Bahnlinien...

 

Halbierte Schienentrasse bei Visaginas
Halbierte Schienentrasse bei Visaginas
off topic: Tanzende Telegrafenmaste bei Zasarai
off topic: Tanzende Telegrafenmaste bei Zasarai

 

Die russische Propaganda trommelt über den angeblich völkerrechtswidrigen Austritt der Balten aus dem Imperium und es werden Rechnungen aufgestellt, wieviel sie Russland als UdSSR-Nachfolger für die Investitionen schulden würden. In diversen Pro-Putin-Foren liest man schadenfrohe Posts der Sorte, einst hätten die Balten dank der Sowjetunion eine entwickelte Wirtschaft, doch heute herrsche allerorten Verfall, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsrückgang riesigen Ausmaßes – und das alles nur ihrer Anbindung an „Gayropa“ wegen. Das mag ja oberflächlich gesehen dem Augenschein entsprechen, doch frage ich mich, womit denn beispielsweise in Russland diese Leute herumfahren – eher doch auch in Westautos, und sie posten derartige Sachen per Westcomputer im Westinternet...

 

Zasarai. König-Mindaugas-Denkmal.
Zasarai. König-Mindaugas-Denkmal.

In Zasarai angekommen geht es nicht gleich rüber nach Lettland, sondern noch ein paar Kilometer weiter nach Stelmužė, wo eine angeblich 1500-jährige Eiche, ein heidnisches Nationalheiligtum der Litauer, steht.

Leider ist sie jedoch gärtnerisch „bearbeitet“, man sieht, wo Äste abgesägt wurden. Und doch ist sie ob ihrer invaliden und knorrigen Erscheinung einen Besuch wert und mag philosophisch veranlagten Gemütern so einige Gedanken an Zeit, Religion und das „Woher-kommen-wir-wohin-gehen-wir“ entlocken.