Tuja. Spiel und Kampf der Elemente.
Tuja. Spiel und Kampf der Elemente.

Sestā Nodaļa – Latvija

 

Bei Ainaži in Lettland mündete die Nebenstraße wieder in die stressige Via Baltica. Die Karten aber versprechen bei Tuja einen Campingplatz direkt am Meer. Und diesmal - Volltreffer! Der Wind blies noch immer ordentlich, und ich suchte mir einen windgeschützen Platz an der Steilküste, wo ich mein Zelt aufbauen konnte, doch nix da: hier herrschte preußische Ordnung! Die Besitzerin dirigierte alle Ankömmlinge, getrennt nach Transportmitteln, rigoros in die vorgesehenen Sektoren: Caravans hier, Zelte dort. Meinen gewünschten Platz direkt am Kliff hinter dichtem Ginster, konnte ich also abhaken – Caravan-Stellplatz. Aber ein ausladender Baum im „richtigen“ Quadranten erfüllte seine sturmabweisende Funktion ebenfalls, und ich beschloss spontan, wieder zwei Tage zu bleiben. Die Elemente! Die schäumende Brandung! Der Sturm! Die bizarren Wolken! Grandios. Zunächst deckte ich mich im naheliegenden Dorfkonsum mit meinem üblichen Proviant Kefir-Salat-Fisch zuzüglich ein paar Bier mehr ein und legte mich mit Lektüre, Nahrungs- und Genussmitteln und Superaussicht am Kliff nieder.

 

Gegen halb zehn kam Bewegung auf dem Campingplatz auf, unsere zahlreich anwesenden teutonischen Landsleute sammelten sich in der Nähe des WiFi-Spots, wo ein Projektor und ein Rechner aufgebaut waren zum Zwecke der Übertragung des anstehenden Deutschlandspiels. In der Halbzeitpause kamen wir miteinander ins Gespräch, darunter auch mit einem deutsch-polnischem Pärchen, das in Warschau lebt. Auf der Fahrt, erzählten sie, sei ein undefinierter Gegenstand in die Windschutzscheibe ihres Autos gekracht. Sie hätten nach Vollbremsung, erstem Schrecken und gründlicher Expertise vor Ort aber nichts entdecken können. Ist vielleicht ein Kleinstmeteorit eingeschlagen? Möglich ist alles. Die beiden besuchen oft und regelmäßig Lettland, sagten sie, und dass er für den Lettland-Beitrag im Baltikums-Reise-Knowhow verantwortlich zeichnet. Schelmisch meinte er, die im Verlag hätten Lettland im Vergleich zu Litauen und Estland aber wirklich stiefmütterlich behandelt...

 


 

 

08.07.2016

 

Wind – gemäßigt. Sonne – vorhanden. Regen – nicht in Sicht. Temperatur – angenehm. Also nach dem Morgenkaffee hurtig auf den Bock geschwungen, und bar jeglichen Gepäckballastes den Gauias-Nationalpark und die Regionalmetropole Cēsis angesteuert.

 

Die Stadt ist voller Geschichte. Die älteste (und heute eine der wichtigsten) Brauereien Lettlands, 1590 gegründet. Die mit am besten, wenn auch nicht vollständig, erhaltene Burg des Schwertbrüderordens aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein organisch gewachsenes Ensemble mittelalterlicher Gebäude, darunter Lettlands älteste gotische Kirche, der Johanneskirche, wo so manche Ordensbrüder unter massiven Steinplatten begraben liegen. Deutsche Kaufmannshäuser ab 18. Jahrhundert aufwärts. Gassengewirr bestehend aus ein- und zweistöckigen Holzhäusern. Und viele Touristen aus aller Herren Länder. Die ehemalige Hansestadt war seinerzeit neben Riga die Nummer Zwei der lettischen Städte, mit dem Recht der Münzprägung. Nach einem etwa zweistündigen Erkundungsgang durch Cēsis geht es weiter nach Līgatne auf. Dort wirbt der Reiseführer für landschaftliche Reize, doch der ist von 2006 und, mich zumindest, lockt als eigentliche Attraktion etwas ganz anderes...

 

Auf halben Wege dahin werde ich unerwartet von meiner kleinen Enttäuschung in Välke-Maarja erlöst: Bei Melturi erscheint am Straßenrand ein Schild, das auf einen Bunker des lettischen Widerstandes der 40er und 50er Jahre hinweist, ein paar hundert Meter im Wald drin. Flugs abgesessen und per pedes durch das Dickicht gekämpft. Alsbald erscheint ein halb unterirdisches Holzkonstrukt, zu dem eine kleine Holztreppe führt, daneben Schautafeln nebst einiger verrosteter Utensilien, wie Patronenhülsen, Gasmaskenbehälter und dergleichen.

 

Niemand da, wie üblich. Doch nach ein paar Minuten sind Stimmen zu vernehmen, eine einheimische Familie nähert sich im Schlepptau einer resoluten Mittdreißigerin, die einen Schlüsselbund in der Hand hält. Die Führung kann beginnen. Dieser Bunker ist eine Replika, ungetarnt, denn echte Bunker von damals hätten sich, lediglich maximal als Hügel wahrnehmbar, durch nichts verraten. Auf die Frage nach der Ventilation zeigte die Dame auf einen Baumstumpf mit kaum sichtbaren Schlitzen. Die meisten Bunker hatten neben dem Hauptzugang einen weiteren Notausgang, doch oft wusste außer dem Chef und seinen engsten Vertrauensleuten niemand, wo sich dieser befand – eine Vorsichtsmaßnahme gegen Verrat und Infiltration. Die Exposition bestand aus Waffen, Funkgeräten, einer Schreibmaschine zum Verfassen von Flugschriften und Alltagsgegenständen und Möbeln, fast alles original aus jener Zeit.

 

Replika eines Bunkers der "Waldbrüder"
Replika eines Bunkers der "Waldbrüder"

 

Auf wenigen Quadratmetern, vielleicht 12-15, hausten bis zu zwei Dutzend Kämpfer, die ab und an Guerilla-Aktionen gegen die Rote Armee, den NKWD oder auch Überfälle auf Waffen- und Proviantlager unternahmen. Doch meist hockten sie rund um die Uhr in ihren Unterständen, im Schichtbetrieb Wache schiebend, sich langweilend, schlafend. Und vor allem wartend. Wartend auf die Hilfe des Westens, Englands, Amerikas, die über Funk mit der Aufforderung zum Durchhalten versprochen wurde und dann doch nie kam.

 

In den Anfangsjahren konnten diese als „Waldbrüder“ bekannt gewordenen Partisanen auf die breite Unterstützung der Bevölkerung zählen, die sie mit Essen versorgte, Botengänge unternahm, Netzwerke spann, Stille Post spielte.

Doch mit zunehmender Festsetzung der Sowjetmacht, mit fortschreitender Repression gegen die baltische Bevölkerung, wurde diese Verbindung nach „draußen“ nach und nach gekappt, die Kämpfer isoliert. Ihre Aktionen, schon zu Beginn wenig schlagkräftig, weil kaum koordiniert, wurden gänzlich wirkungslos. Auch die Unterwanderung durch die Staatssicherheit zeitige Erfolg: Die Existenz der Widerstandsgruppen verschwand nach und nach aus dem öffentlichen Bewusstsein und sie wurden, wenn überhaupt thematisiert, als organisierte kriminelle Banden bezeichnet. Gegen 1956/57 war der Widerstand endgültig gebrochen, obwohl es immer noch „Einzelkämpfer“ gab – die Dame mit dem Schlüsselbund berichtete von einem alten Mann, der sich erst 1992 „ergeben“ hätte. Allerdings sei allen, auch dem Staatsapparat, längst klar gewesen, dass es sich bei derlei Leuten um, nun ja, meist psychisch Kranke handelte, Durchgeknallte, die im Wald hausten. Dennoch: Die Tradition ist bis heute lebendig, und so werden sich am 30. Juli hier an dieser Stelle Veteranen des Partisanenkampfes bei einer Gedenkfeier treffen.

 

In Ligatne angekommen fahre ich direkt zu meiner Attraktion – einem Sanatorium. Erbaut 1982 hat es den Charme der Sowjetära vollständig konserviert. Das zugige Foyer, der Speisesaal für die Massenspeisung, die typischen grün-roten Teppichläufer, die Gummibäume, die Möbel, dunkelbraun furniert. Doch nicht deshalb bin ich hier, sondern wegen einer kleinen unscheinbaren Kellertür.

 

Dort hinein wollen auch noch zwei Dutzend andere, denn hinter dieser 0815-Kellertür geht es hinab in den Atombunker der einstigen Parteiführung der Lettischen SSR. Die Führungen werden in englisch und lettisch angeboten, ich nehme die lettische, obwohl ich nichts verstehen werde, spekuliere aber darauf, dass die Führung für die Einheimischen nicht dem modernen Eventhabitus eines Gringo-Disneylands folgt.

 

Die Guide ist eine sehr nette Mittfünfzigerin und gleich geht es in medias res. Hinter der kleinen Tür befindet sich dann auch schon eine einem Atombunker eher entsprechende Schleuse, und es geht treppab in die Unterwelt. Unten angekommen erfahren wir, dass eine Betondecke von 9 Metern Dicke über uns lagert. Das heißt, die meisten der Führungsteilnehmer erfahren es. Zum Glück für mich verstehen aber auch ein paar andere nur Bahnhof, und jemand von ihnen meldet den Bedarf an einer russischen Zusammenfassung an. Kein Problem, wieviele verstehen nicht lettisch? Sechs, sieben acht Finger gehen hoch. „Ladno, choroscho“, sagt die Dame schaltet in den bilingualen Modus um und wir sind gerettet.

 

Das Labyrinth ist keine militärische Anlage, sondern diente der Zivilführung des Landes im Ernstfall als Koordinationsstelle für Maßnahmen der Zivilverteidigung. Nach dem Abzug der Sowjets nutzte die lettische Regierung das Objekt zu diesem Zwecke weiter und es blieb somit weiterhin geheim. Erst mit der Aufnahme der Balten in EU und NATO wurde das Teil außer Betrieb gestellt, weil die Konstruktion angeblich den NATO-Standards nicht entspricht. Und dennoch: bis heute gilt in manchen Bereichen ein Fotografierverbot.

 

Ligatne, Parteibunker: Luftschleusen mit Dummy
Ligatne, Parteibunker: Luftschleusen mit Dummy
Ligatne, Parteibunker: Kommunikationstechnik
Ligatne, Parteibunker: Kommunikationstechnik
Ligatne, Parteibunker: Druckwellen-Membransensor
Ligatne, Parteibunker: Druckwellen-Membransensor

Ligatne, Parteibunker: Repräentationszimmer
Ligatne, Parteibunker: Repräentationszimmer

 

Wir werden herumgeführt:

  • Arbeitsräume der Großkopferten – massive Möbel im damals extrem beliebten Bonzen-Dunkelbraun.

  • Der Maschinenraum zur Erzeugung von Elektrizität und Ventilation - auch hier durfte lange man nicht fotografieren, denn die Maschinen sind immer noch einsatzbereit. Allerdings ist ihr Job nunmehr, bei einem Stromausfall das Sanatorium nebst seiner medizinischen Einrichtungen zu versorgen. Die Motoren für die Aggregate sind Antriebe aus den massenhaft im Ostblock zum Einsatz gekommenen T-55-Panzern. Wie sind die Dinger denn hier heruntergekommen? Na, in Einzelteilen, und hier wurden sie zusammengebaut. Und was, wenn es keinen Nachschub an T-55-Ersatzteilen mehr gibt? Das wird noch dauern, keine Sorge.

  • Der Dekontaminationsraum für „Zu-Spät-Gekommene“ - ein beängstigender Trakt aus Schleusen, Duschen, Isolationsräumen. Auch wurde die Funktionsweise der Luftversorgung erklärt: Der Bunker war rund um die Uhr im Stand-By-Betrieb, und so wurde er auch normal mit Frischluft von „oben“ versorgt. Diese Ventilationskanäle verfügten aber über einen Membransensor. Sollte eine Druckwelle auf das System treffen, schalteten die Steuerelemente in Bruchteilen von Sekunden die ungefilterte Luftzufuhr von außen ab und auf die internen ABC-Filteranlage im Bunker um.

  • Die Nachrichten- und Telefonzentrale und der Computerraum, beides mit Sowjetelektronik bestückt. Ob die Direktleitungen wohl noch funktionieren? Na die nach Moskau garantiert nicht, so die zweideutige Antwort. Wurde der Telefonverkehr vom KGB abgehört? Selbstredend, dort im Raum nebenan befand sich zu diesem Zwecke die Telekommunikationszentrale des KGB, aber kannte man sich halt. Und so wurde es zum Running Gag, dass, wenn die Belegschaft Privatgepräche führte, sie stets ein „Schätzchen, geh aus der Leitung!“ vorweg setzte.

  • Der „Clubraum“ - ebenfalls mit sowjetischer Unterhaltungselektronik der 80er und Melodija-Schlagerplatten, darunter auch Lizenzpressungen von Westmusik.

  • Der Repräsentationsraum. Eine riesige künstlerisch gestaltete Holzkarte Sowjetlettlands ziert eine Wand sowie eine Büste des Genossen „Lēniņs“, eingerahmt von Flaggen der UdSSR und der LSSR.

  • Die Lagebesprechungsräume (Foto- und Filmverbot) – unterteilt nach Arbeitsgruppen, wie Evakuierung der Zivilbevölkerung, Koordination der Notversorgung.

  • Der Speisesaal nebst Küche – so sahen so ziemlich alle Speisesäle und Kantinen in der SU aus. Vor allem die Wachstuchtischdecken. Heute kann man dort nach Voranmeldung ein echt sowjetisches Menü bestellen und extravagant feiern.

Über eine Stunde ging die Exkursion, und tatsächlich – wir wurden zwischenzeitlich von der wesentlich später gestarteten Englisch-Gruppe überholt. Deren Erklärerin war ein junges Mädel, in einer Uniform der Sowjetarmee steckend – Gringo-Disneyland as predicted. Unsere lettisch-russische Mittfünfzigerin hingegen hatte in dem Bunker gearbeitet und Dienste geschoben. Eine Zeitzeugin.

 

Nach der Führung bin ich doch etwas nachdenklich ans Tageslicht gekrochen. Im Endeffekt kann man gerne einwenden, es ist nur ein Keller mit altem Zeugs drin. Doch die Atmosphäre ist schon eine besondere, und Freunde von Endzeit-Rollenspielen wissen das zu schätzen, denn der Komplex kann, nach Voranmeldung, auch dafür gemietet werden. Einmal laufe ich noch um das Sanatorium herum und mache tatsächlich die lax getarnten Ventilationsöffnungen und einen weiteren Zugang zum Bunker, wahrscheinlich den für die „Zuspätkommer“, aus; vielleicht irre ich mich auch komplett in meiner Interpretation des Gesehenen.

 

 

Auf dem Rückweg wirbt das Holzmuseum von Litgatne für einen Besuch. Dort kann man eine Werkstatt mit allen erdenklichen Holzbearbeitungswerkzeugen sehen, ein Rundkurs führt durch ein Waldstück, wo lauter kleine und große niedliche Holzarbeiten aufgestellt sind, Pilze, Trolle und dergleichen mehr. Nahe des Ausgangs befindet sich ein ökologisches Experimentalhaus, vorrangig aus Holz, Lehm, Stroh und sonstigen Natur- wie Recyclingprodukten, wie Glasflaschen, errichtet. Ein unfreundlicher Hausbewohner oder Mitarbeiter raunzte mich an, als ich ihn etwas dazu fragen wollte. Na dann eben nicht.

 

Weiter geht es auf der A2 nach Sigulda, einer weiteren sehenswerten Stadt, doch genug gesehen und erkundet für heute, so dass ich nur durchfahre und Kurs Richtung Zeltplatz aufnehme. Summa summarum habe ich heute wieder fast an der 300km-Marke gekratzt. Jetzt ist es an der Zeit zu entspannen. Ich bastele mir mein Standardabendmahl zurecht, doch kaum dass ich mich zum Speisen niederlasse taucht ein junger Mann aus Thüringen mit frisch gegrillten Rippchen auf: Haben wir nicht geschafft, vielleicht willst du? Und ob! Er verschwindet, und nachdem ich die Teile verputzt habe, trabe ich in den Dorfkonsum, ein paar Bier zu kaufen, um mich damit bei ihm zu revanchieren.

 

Er ist unterwegs mit seiner Frau und ihrer kleinen Tochter, in einem Bulli mit Dachzelt, ähnlich jenem, das die niedersächsichen 2CV-Hipster in Trakai hatten, nur so richtig chic. Wir laberten dann den ganzen Abend über dies und das, ich erfuhr, dass er Feuerwehrmann in Jena, sie Mitarbeiterin der SOS-Kinderdörfer in Gera ist.

 

Ligatne. Holzmuseum.
Ligatne. Holzmuseum.

 

Bislang hatte ich kaum einen handfesten Gedanken an meine Rückreise verschwendet. Noch ist mein Programm nicht abgespult, ein Abstecher nach Litauen steht auf der Liste, zwei-drei Sachen, die ich beim ersten Durchlauf nicht auf dem Schirm hatte. Doch weder Fährbuchungsapp noch Webseite der Reederei werfen eine terminlich passende Verbindung aus Klaipėda aus und so soll es wieder der Seelenverkäufer „Urd“ sein, retour von Liepāja nach Travemünde. Für eine Kabine, da bin ich zu spät dran. Egal, Geld gespart und außerdem: Wer fast drei Wochen überwiegend auf Isomatten gepennt hat, kriegt das auch an Bord, irgendwo in einer Ecke, locker auf die Reihe, und braucht dazu nicht mal ein Zelt aufzubauen.

 

 

09.07.2016

 

Heute auf dem Reiseplan: Gewaltritt mit Ansage durch halb Lettland und halb Litauen durch, bis kurz hinter Šiauliai, dort wo Litauens bekanntestes Nationalheiligtum, der Berg der Kreuze steht.

 

Kurz hinter Tuja liegt der Münchhausen-Erlebnispark, denn unweit wohnte einst der Lügenbaron, und in der Kirche von Liepupe, so heißt es, hatte der in russischen Diensten stehende Offizier 1744 seine Braut geehelicht. Die Kirche schien ich gefunden zu haben, aber darin oder davor keinen Hinweis auf den Baron.

 

Der Münchhausen-Park hingegen liegt noch ein paar Kilometer weiter rigawärts, und so ist eine Stippvisite kein Umweg. Das weitläufige Areal ist für familienfreundliche Wochenendaktivitäten geeignet. Man kann dort Pfade abwandern, Kinder auf riesigen Spielplätzen mit Münchhausen-Bezug parken, Essen, Trinken und das Münchhausen-Museum besuchen, welches allerdings wenig systematisch gestaltet scheint – man erfährt nicht allzuviel über dass Leben des Barons und seines „Ghostwriters“ Rudolf Erich Raspe, obwohl es an Exponaten, meist Schriftstücken, Briefen und Urkunden nicht mangelt. Erhellend hingegen das Wachsfigurenkabinett im Obergeschoss, wo Persönlichkeiten aus der lettischen Geschichte versammelt sind.

 

Nach der obligatorischen Museumsstunde geht es zurück auf die Piste. Es ist Samstag, und je näher zu Riga, desto mörderischer der Verkehr. Die Provinz will in die Stadt, die Stadt aufs Land. Völlig überlastet ist die zweispurige Magistrale, auch wenn das Asphaltband natürlich wesentlich breiter als unsere als Bundesstraßen bezeichneten Teerpfade ist; es wäre auch notfalls Platz für drei Autos nebeneinander.

 

Doch der Notfall ist Normalfall. Die Zahl der Autos ist seit 20 Jahren exponentiell gestiegen, und in letzter Zeit selbstredend die Idiotie, feiste SUV zu fahren. Die Eisenbahn hat als Haupttransportmittel für Personen- wie Warenverkehr ausgedient und so alles rollt automobil. Was im Westen falsch läuft, das tut es hier im Osten ebenfalls, und das bei einer weit weniger ausgebauten Infrastruktur. Und nicht zuletzt ist der Fahrstil auch eine Frage der Mentalität. Wahrlich ein „Highway to Hell“.

Trotz der erheblichen Verkehrsdichte liegt das Durchschnittstempo bei 110 km/h, Sicherheitsabstände – Fehlanzeige. SUV überholen Familienkombis, drängen sie an den Fahrbahnrand. Der Gegenverkehr kann sich nur auf die Schätzkünste des Überholenden verlassen. LKW spielen das Spiel munter mit.

 

Voraus im Gegenverkehr liefern sich zwei SUV ein Überholmanöver. Doch dann taucht in meinem Rückspiegel für den Bruchteil einer Sekunde ein dritter SUV auf – und musste natürlich an mir vorbei. Für einen Bruchteil einer Sekunde steht die Zeit still – und vier Fahrzeuge, nämlich mein Mopped und die drei Autos, befanden sich quer auf einer zweispurigen Landstraße in Konjunktion. Dann, im Zeitlupentempo, riss der dritte sein Steuer nach rechts, direkt vor mein Vorderrad. Genauso in Zeitlupe suchte ich die letzte freie Rille am rechten Straßenrand, synchron bremsend, im Rückspiegel einen Lastwagen rasant näherkommen und neben mir die drei Protzkisten sich um Zentimeter verpassen sehend. Und noch lange 35km bis Riga, noch unendliche 20 Minuten automobil-suizidaler Irrsinn. Wahrscheinlich sind alle Starenkästen kaputt. Zwar wird überall auf die Radarüberwachung hingewiesen, doch keiner schert sich darum auch nur einen Deut.

 

Hinter Riga führt die Magistrale ins platte Landesinnere, beileibe kein Sehnsuchtsort für den Sommerfrischler, und so gestaltet sich fortan alles wesentlich entspannter. Im Neubaugebiet von Jelgava gibt es eine Tanke mit dem preiswertesten Sprit des Tages. Vor den Toren der Stadt – eine riesige industrielle Molkerei des „Latvijas Piens“-Konzerns.