Septintajas Skyrius – Lietuva

Šiaulai. Berg der Kreuze. Exemplare aus der späten Sowjetzeit
Šiaulai. Berg der Kreuze. Exemplare aus der späten Sowjetzeit

 

Eineinhalb Stunden später: Litauen die Zweite. Petrus hatte ein Einsehen, denn er plazierte seine Regenwand, grau und undurchdringlich – da muss es mörderisch geschüttet haben – keine halbe Meile zu meiner Rechten. Zu meiner Linken schien in freundlichem Himmelsblau die Sonne, denn Petrus wusste schien zu wissen, wohin ich wollte – zu dem Nationalheiligtum der Litauer schlechthin, dem Kryžių kalnas, deutsch Berg der Kreuze, bei Šiaulai. Halb vier, die Sonne scheint, viele Autos stehen am Straßenrand zur Zufahrt, Busse, Brautpaare mit sie umschwirrenden Fotografen.

 

Wollte man schätzen, wie viele Kreuze dort versammelt sind – die Zahl dürfte fünf-, wenn nicht gar sechsstellig ausfallen. Denn nicht nur große, mannshohe oder gar noch größere Exemplare finden sich dort. Die überwiegende Anzahl sind kleine, wenige Zentimeter messende Kreuzchen, die man dort vor Ort bei fliegenden Händlern oder im Shop erwerben und einfach dazu stecken kann. Viele sind beschriftet und kommen aus aller Herren Länder, so hatte sich auch ein deutscher Motorradclub verewigt.

 

Der Berg entstand zwar im 19. Jahrhundert, aber in den 70er, 80er Jahren, und trotz rabiater Gegenmaßnahmen seitens der Sowjets, die dort nicht nur einmal mit Planierraupen drübergegangen sind, ist er zu dem geworden, was er heute ist, und so findet man noch hier und da massive geschweißte Metallkreuze aus jener Zeit. 1993 hatte Hans-Paul Zwo auf seiner Baltikumsreise dem Berg seine Aufwartung gemacht – sein Besuch ist natürlich nicht auf einem spröden Metall- oder Holzkreuz verewigt, sondern schon etwas schicker und raumgreifender. Begibt man sich direkt in den Berg, multipliziert sich das Gefühl der Entrücktheit – denn man steht gleichsam in einem Labyrinth. Vom belebten Hauptpfad kann man an mehreren Stellen ausbüxen, und schon hat man ganz und gar den Eindruck, völlig allein mit den Kreuzen und sich selbst zu sein.

 

Šiaulai. Berg der Kreuze
Šiaulai. Berg der Kreuze
Šiaulai. Berg der Kreuze
Šiaulai. Berg der Kreuze

 

Über Šiaulai sollte es eigentlich strikt westwärts Richtung Palanga gehen, die Sonne steht schon tief, sodass ich in Kurtuvėnai Quartier beziehe. Auf dem Zeltplatz ist zunächst wenig los, ein dänischer Caravan steht einsam da, doch just legen zwei Camping-Dickschiffe mit französischen Nummernschildern an, und kaum geankert, springt auch schon die gut genährte Besatzung von Bord und hilft sich als erste Amtshandlung laut krähend ein paar Bier ein (Appretif, oui, bien sure!), nicht ohne die Dänen und mich einzuladen. Sehr nett von ihnen. Kurz darauf ziehen die Herrschaften los, um im Dorfgasthaus zu speisen.

 

In unmittelbarer Nähe zum Zeltplatz steht ein aufwendig restaurierter Gutshof aus dem 15. Jahrhundert. Darin ist wohl auch eine Bildungseinrichtung untergebracht, aber viel vermag ich nicht auf den Schildern zu entziffern. Alsbald ist es recht bald auch schon dunkel – jaja, der Süden. Ab dafür in die Horizontale, Nachtruhe, Licht aus.

 

 

10.07.2016

 

Heute dann die letzte große Etappe, und das Highlight zum Schluss: die ehemalige sowjetische Mittelstreckenraketen-Basis bei Plokštinė im heutigen Žemaitija Nationalpark. Von niemandem behelligt cruisend, sofern das auf einer CB500... usw., durch den arschkalten, aber sonnigen Sonntagmorgen, durch die Wälder, bis zur A11, die via Telšiai und Plungė zum besagten Nationalpark führt.

 

Bei Plungė befindet sich ein weiterer Ort der anti- und postsowjetischen Identitätsstiftung der Litauer, der Garten von Vilius Orvidas, einem Künstler und Steinmetz, der dort in den 70ern einen Skulpturengarten, sein „Absurditäten-Museum“, wie er es nannte, errichtet hatte. Litauer scheinen Skulpturengärten zu lieben, und dabei kann es nicht schräg, hintersinnig, chaotisch, eben absurd genug zur Sache gehen. Und auch hier rollten die Bulldozer des öfteren an, bis ein Besuch Gorbatschows, noch weit vor Perestroika-Zeiten, den Repressalien ein Ende machte und somit der Skulpturenpark noch zu sozialistischen Zeiten „legalisiert“ wurde. Kaum zu glauben, dass derselbe Hoffnungsträger Gorbatschow für das Blutbad im Januar 1991 am Vilniuser TV-Zentrum verantwortlich war, als eine Demonstration für die Unabhängigkeit von Panzern niedergewalzt wurde und es 14 Tote gab.

Ursprünglich hatte ich nicht wirklich vor, den Park auch komplett zu besuchen. Der rostige Panzer am Eingang sollte als Fotomotiv und Pars pro toto dienen, aber da gerade niemand weiter da war, erlöste ich die ältere Dame im Kassenhäuschen aus ihrer Lethargie und kaufte dann doch ein Billett. Auf dem Gelände erwartet einen ein Sammelsurium aus Schrottinstallationen, Steinplastiken, oft mit christlichem Bezug, eine Glocke (bitte schlagen, erwünscht), Schnitzereien und lauter solches Zeug, scheinbar planlos in die Botanik gestreut. Von dem Ganzen geht ein eigentümlicher Charme aus, den man kaum in Worte fassen kann. Selbst Bilder können die Atmosphäre nur unvollständig vermitteln. Doch das hatte sich nunmehr von selbst erledigt, endlich war der Akku meiner Knipse alle. Immerhin hatte er fast die ganze Reise über gehalten.

 

Der umtriebige Vilius lebte und starb für sein Projekt, und dort, wo ihn 1992, gerade vierzigjährig, der Herzinfarkt niederstreckte, steht sein Grabstein, inmitten all des Chaos'. Meine Rührung ob dieses Absurditäten-Museums teilte ich am Ausgang der Dame im Kassenhäuschen mit, und fragte sie, ob dieses Museum denn so auf dem Stand der 90er verblieben sei und wer es denn nun betriebe. Sie sagte, dass sich die Familie Orvidas nach wie vor um das Anwesen kümmert, es in Schuss hält und dass auch einige Exponate hinzugekommen sind, und sie selbst Vilius' Schwester sei und oft vor Ort präsent.

 

Weder sind Raketenbasis oder der Ort Plokštinė auf meinen Karten verzeichnet, noch die großen Wegweiser des Nationalparks am Straßenrand eine große Hilfe. Was für eine gequirlte... Doch glücklicherweise fuhren zwei Touristenbusse vorbei, auf deren Anzeige „Soviet Missile Base“ stand – also mit Hurra ihnen hinterher. Doch sie fuhren mitten ins Dorf und hielten vor einem Hotel. Na toll. Also fragte ich einen der Reiseleiter, wo es denn nach der „Soviet Missile Base“ ginge? Richtung Alsėdžiai, etwa zwei Kilometer davor, einmal rechts, einmal links, nochmal links. Ich tat wie mir geheißen und war guten Mutes, denn die Straße war frisch asphaltiert. Da, ein Hinweisschild! Nur steht da nirgends „raketa“ und auch nirgends „missile“ oder „soviet“ drauf, nur irgendwas mit „karo“... Litauisch müssten man können. Aber da führt doch eine Schotterpiste in den Wald... Eine mit einem neu angelegten, frisch geteertem Radweg am Rande, ideal zur illegalen Benutzung. Das sah definitiv nach Tourismus aus, mal sehen, wo wir da ankommen.

 

Nach weiteren fünf Kilometern: Busparkplatz. Ein Souvenir- und Kassenhaus. Dahinter – ein mit Stacheldraht umzäuntes etwa 300 x 300 Meter großes Areal, und in jeder der vier Ecken ragt je eine massive Betonkuppel aus dem Boden. Der Zugang zu einer davon ist der Eingang zum Museum. Freundlich wird der Besucher (und einst der Soldat) mit dem auf dem Türsturz in roter Farbe aufgepinselten Befehl begrüßt, dass gefälligst die Füße abzutreten sein. Also bitte mit sauberen Latschen dem Atomkrieg entgegen! Im Labyrinth sieht man die restaurierten Aufenthalts- und Diensträume der Soldaten, bemannt mit sowjetuniformierten Dummies.

Darüber hinaus tönen aus den nachträglich eingebauten Audioinstallationslautsprechern unermüdlich irgendwelche russischen Befehle und Zahlenfolgen. Tunnelgänge führen zu den beiden Herzstücken der Abschussrampe – dem eigentlichen Silo und der „Tankstelle“ für die Raketen. Ersteres ist ein düsterer Ort. Der Schacht, an dessen oberen Rand man steht, geht etwa 30 Meter in die Tiefe. Dort stand er einst also, der raketenreitende Tod, und auf dem Gelände gleich vier Mal. Über einem wölbt sich ebenjene massive Kuppel, die man schon von außen sieht, und hier, von unten, lässt sich die schwere Mechanik gut erkennen, welche sie im Falle eines Abschusses seitlich wegbewegt hätte.

 

 

Die Raketen-“Tankstelle“ liegt auf der anderen Seite des Silos. Ein riesige Halle. Man erkennt besonders schwere luftdichte Luken an den Eingängen. Die litauisch und englisch, aber nicht russisch geschriebenen Infotafeln erklären, dass der Raketentreibstoff extrem giftig und chemisch aggressiv war – jeder Fehler in der Handhabung hätte fatal für Mensch und Material in der Basis ausgehen können. Heute ist es ein Ausstellungsraum – zum einen für wechselnde Expositionen, die nichts mit der Basis zu tun haben müssen, zum anderen gibt es eine ständige Sammlung von illustrierten Handlungsanweisungen im Falle eines ABC-Angriffs für Militär und Zivilbevölkerung zu besichtigen; duck and cover...

 


 

In weiteren Räumen gibt es einen Abriss des Kalten Krieges sowie der Entwicklung von atomaren Waffensystemen zu sehen, garniert mit Videoschnipseln und diversem gedruckten Propagandamaterial beider Parteien, West wie Ost. Der Rundgang endet in einem großen Raum, wohl der früheren Mission Control. Auf eine große Leinwand wird in Schleife ein etwas kitschiges Video mit der Schönheit unseres Blauen Planeten projiziert, bis Alarmstufe Rot aufploppt und daraufhin die bekannten Filmsequenzen atomarer Explosionen erscheinen.

 

Die Raketenbasis als solche wurde in den späten 50ern geplant und gebaut. 1987 wurde sie abgewickelt und alsbald vergessen. Erst Mitte der Nuller wiederentdeckt, baute man sie sukzessive zum Tourismusmagneten aus. Wer wissen will, was spooky ist, darf sich gern im Netz Videos von der Basis vor ihrer Aufhübschung anschauen. Heute erscheint es dagegen als ein gediegenes bürgerliches Museum – auch wenn der Ort nach wie vor seine unheimliche Wirkung nicht verfehlt.