Otrā Nodaļa – Latvija

 

Das Hostel lag wenige Meter vom Hafengelände entfernt und ich freute mich, meine Knochen auszubreiten... Aber nix da. Aus der Hosentasche purzelte – der Kajütenschlüssel. Wie das? Ich hatte doch alles abgegeben! Oder? Also wieder auf den Bock, zum Hafen. Dem Securitymenschen zeigte ich den Schlüssel, er schaute mich lange nachdenklich an und zeigte an: „Nun mach schon!“

 

Die letzten Trucks verließen gerade den Laderaum, aber an Rezeption war keiner mehr. So steckte ich die Schlüssel durch die herabgelassene Jalousie und fuhr wieder ins Hostel. Dort legte ich meine Sachen zusammen und stellte dabei fest, wie verdächtig leicht meine Hosen waren. Nachgeschaut – überhaupt keine Schlüssel mehr. Ich hatte im Zustand erhöhter Verpeiltheit also beim Auschecken meinen Wohnungsschlüssel statt des Kabinenschlüssels abgeliefert! Doch am nächsten Tag lag die „Urd“ noch im Hafen. Also werde ich dann mein Glück nach dem Aufstehen versuchen.

 

Gegen acht schien die Sonne ins Fenster, und endlich ausgeschlafen, ging es erneut zum Hafen. Ein anderer Pförtner war da, ein russischer Opa, sein Enkel spielte mit einer Lagerhallenwand Fußball. Ich durfte nach Hinterlegung meines Ausweises auf die „Urd“, traf die Rezeptionistin an, bekam meine Schlüssel wieder, und wir lachten über den Vorfall. So einfach kann es gehen. Wieder an der Pforte angekommen unterhielt ich mich mit dem Opa. Dass es in Lettland bei weitem nicht so gut läuft. Die Russen, so sagte er, würden nicht mehr so scharf diskriminiert wie noch in den 90ern, aber die wirtschaftliche Lage ließe zu wünschen übrig und die Bevölkerung sei um fast ein Drittel geschrumpft – in seiner Stadt Liepāja genauso wie im ganzen Land. Viele Russen suchen ihr Glück in Russland, viele Letten im Westen. Er und seine Familie aber bleiben hier, denn immerhin wären sie nun EU-Bürger, und das ist schon was.

 

Dann gab er mir noch einen Stadtplan und den Tipp auf den Weg, den Stadtteil Karosta zu besuchen, den Flottenstandort sowohl der zaristischen Flotte als auch der Sowjetmarine, in jener Zeit Sperrgebiet. Und dass es nicht notwendig sei, das „Militärgefängnis“ zu besuchen, wo man den „Alltag“ eines sowjetischen Militärknasts erleben kann, wo das Personal Wärter spielt. Touristennepp sei das, und der angebliche Knast ist auch kein Gefängnis, sondern eine „Gauptwachta“, also ein durchschnittlicher Arrestblock gewesen. Für NVA-Veteranen zum Verständnis: Es war nicht „133 Schwedt“!

 

Karosta: Flottengebäude aus der Zarenzeit
Karosta: Flottengebäude aus der Zarenzeit

Die Fahrt jedoch in den etwa 4km entfernten Stadtteil hatte eher etwas mit einer Zeitreise 40 Jahre zurück gemein. Die Spuren des Sowjetimperiums auf baltischem Boden sind, wenn auch nicht mehr brühwarm, doch allgegenwärtig, anders als in der ex-DDR, wo sich dem interessierten Touristen eine solche Suche um Längen schwieriger gestaltet.

 

Die Siedlung, die die Sowjets in den 60er-70er Jahren aus dem Boden gestampft hatten, war nicht klein. Plattenbauten (späteren Datums, als es der UdSSR in späterer Breshnew-Ära nicht mehr so gut ging) und Ziegelfünfgeschosser (als es der UdSSR in der früheren Breshnew-Ära noch etwas besser ging) bestimmten das Ambiente. Es war Freitag, aber es tat sich nicht allzuviel auf den Straßen. Ein paar Leute in Trainingsklamotten latschten vollbetütet aus einem Supermarkt in ihre Häuser, ein Bus, Linie 3, wartete an der Endhaltestelle auf Fahrgäste, doch jene, die im Buswartehäuschen saßen, betrachteten dieses eher als ihre Spontankneipe.

 

Die Ziegelbauten zierten Jahreszahlen der Fertigstellung, meist zwischen 1969 und 1972, und sie sahen noch ganz passabel aus. Anders die Plattenbauten – sie pellten sich wie zu zu lang gekochte Eier. Garagenzeilen, auch aus SU-Zeiten, typisch von Brest bis Wladiwostok, säumten die Wege, an ihnen hatten Sprayer ihre Dosen und Sprüche aus probiert. Leerstand war nicht auszumachen, wenn man ein einzelnes Wohnhaus betrachtete, überall wehten Gardinen und flatterte Wäsche auf den Leinen in den Balkons. Doch so manche Blöcke standen komplett leer, so auch eine Ladenzeile, deren russische Bezeichnung „Obst-Gemüse-Blumen“ bis heute nicht entfernt wurde, sowie ein Kindergarten, der einst prominent im Zentrum des Wohnblockensembles angelegt wurde. „Das beste den Kindern!“ – so hieß es offiziell in der Sowjetunion. Ob auch umgesetzt, darüber kann man sich streiten. Doch der Kapitalismus ist über diesen Spruch augenscheinlich hinweggegangen.

 

Dafür, über all dem sich verhalten gebenden Verfall, prangt goldbedeckt ein neues, altes Wahrzeichen von Liepāja, die russisch-orthodoxe Kirche St. Nikolaus. Gebaut um 1900, ist sie aufwendig restauriert worden.

Die zaristischen Flottenbauten in der Nachbarschaft schlafen ihren Dornröschenschlaf. Die meisten dieser Häuser stehen leer. Sie dürften einst irgendwelche Behörden und Institute beherbergt haben, jetzt verfallen sie still und leise.

 

Karosta: Sowjetische Marinesiedlung
Karosta: Sowjetische Marinesiedlung
Karosta: Verlassener Supermarkt
Karosta: Verlassener Supermarkt

 

Nach dieser ungeplanten ostalgischen Zeitreise, eher einem temporalen Schock, machte ich mich auf den eigentlichen Weg. Liepāja – abgehakt. Keine Zeit! Der Masterplan! Volle Kanne also nach Ventspils im Norden, zur Burg der deutschen Ordensritter. Wenigstens mal von Ferne gucken – und abhaken. In Ventspils angekommen, reichte es gerade einmal für eine faule Runde ich drehte ab gen Süden. Es war ja schon spät, etwa drei am Nachmittag, und die Kurische Nehrung musste ja heute noch erreicht werden! Der Masterplan! Läppische knappe 200km, quasi auf einer Arschbacke abzureißen...

 

Die Straßen sind wesentlich breiter als die schmalen Handtücher Deutschlands, über sich oft ein Mehrfaches an Verkehr quälen muss. Auch ein Erbe der Großen SU. Der Straßenbelag, und das tatsächlich in allen drei Ländern, ist oft spitze. Grober Bitumen, ausreichend Grip, wie in Frankreich. Anderenorts – Bitumenflickerei bis zum Horizont, jedoch erscheint diese nicht so hinterhältig wie hierzulande, aber diese Angabe ist natürlich ohne Gewähr.

 

Überall Storchennester...
Überall Storchennester...
...und...
...und...
...Schotterpisten
...Schotterpisten

 

Doch über die Dörfer abseits der Magistralen zu fahren – das macht doch mehr Laune, oder? Gedacht, getan. Doch Schreck! Das Verkehrszeichen, das eine schwarze markierte Straße in eine weiße unmarkierte übergehend anzeigt, dürfte dem deutschen Kraftfahrer bislang kaum geläufig sein. Alles wird aber schlagartig klar, als ebenso schlagartig der Straßenbelag aufhört und eine Schotterpiste beginnt. Dabei ist diese Straße doch auf der 1:750000er Karte als wichtige Landstraße ausgezeichnet! Schotter, fiese Querrinnen, Waschbrett. Die einheimischen Autofahrer beeindruckt das kaum, sie rasen mit 80 Sachen drüber und hüllen alles in eine dichte Staubwolke ein. Für die kleine CB500 hingegen ist das S-Tolpern über S-Pitze S-Teine reines Gift, die Geschwindigkeit sinkt auf unter 30 km/h, und was, wenn sich einer in das Pneu bohrt? Nächste Kreuzung wird es bestimmt besser. Doch weit gefehlt, keine Kreuzungen meilenweit, und wenn, dann Schotter in alle Himmelsrichtungen. So zuckle ich dann bis Rucava dahin, voll konzentriert, schwitzend, fluchend. Keinen Blick für die Umgebung übrig habend. Die Hauptstraße erreiche ich bei Rucava gegen acht abends. Noch 70km bis Klaipėda.

 

Aber auch Seen ...
Aber auch Seen ...
...ein paar Bauernhäuser...
...ein paar Bauernhäuser...

...und sonst nix und niemand.
...und sonst nix und niemand.