Erstes Kapitel – Deutschland & Ostsee

Gegen elf ging es dann los. Nach 15 innerstädtischen Kilometern – knack! Das Visier des gerade erst auf der Motorradmesse erstandenen Helms verabschiedete sich aus seiner Arretierung. Ein schöner Helm, eigentlich, dieser HJC IS17, aber kompliziert im Aufbau, Federchen hier, Plastikhäkchen da... Die Visiermechanik ließ sich aber soweit herstellen, dass nichts mehr klapperte und selbständig auf- und zuging.

 

Alsbald nach diesem Zwangsstopp ging es die B5 geradeaus, nach Nordwesten. Die B5 ist gespickt mit Blitzen und LKW-Mautprellern, sodass es die ersten 100km schon mal sehr zäh voranging. Und in drei Stunden geht die Fähre! Deutschland – dicht besiedelt, hoch motorisiert. Die freien Straßen kommen ja noch... vielleicht.

 

Auf dem Wege liegt Ludwigslust. Vorurteilen zufolge eine Art Inbegriff für langweilige preußisch-mecklenburgische Provinz, doch es erschien recht schnucklig – ein Schloss, alte Gassen, in denen man noch die alten Handwerker, Schmiede, Töpfer malochen zu sehen glaubt und die perückenbezopften Soldaten exerzieren. Auch diverse DDR-Plattenbauten sind recht ansprechend saniert. Kinder turnten auf allerlei Spielgerät herum. Ein Bild wie aus einem sozialistischen Werbeprospekt, könnte man meinen. Andere Satellitenstädte der Verblichenen sehen auch heute noch wesentlich unvorteilhafter aus.

 

Ludwigslust
Ludwigslust
Schloss LWL
Schloss LWL
Ludwigslust
Ludwigslust

Der Verkehr nahm zum Glück stetig ab, und auf der B105 ging es recht zügig nach Travemünde. Jedoch muss man dort auf einer städtischen Fähre ins Zentrum übersetzen, nicht billig, fast 3€ für die paar Meter. Danach begann die Sucherei nach dem „Skandinavienkai“. Nach fast 300 km im Sattel und bei drückend-schwülen 28° eine recht nervende Angelegenheit. Nach einer Ehrenrunde um Travemünde herum und einer berlinverdächtigen Dichte an BaustellenBaustellenBaustellen sowie orientierungsarmen Herumgestochere auf dem Hafengelände habe ich es dann endlich geschafft.

 

Die Fähre „Urd“, nach einer germanischen Gottheit benannt, erwies sich als echter Truckerkahn. Spartanische Einrichtung der allgemein zugänglichen Orte – ein paar Spielautomaten (allerdings wurden sie auf der Überfahrt von niemandem benutzt) und ein bierbefreiter Getränkeautomat war die ganze Flurausstattung. Die Bordkneipe hatte laut Aushang nur wenige Stunden der 27stündigen Reise auf. Vier Mahlzeiten sind allerdings im Ticketpreis enthalten.

 

Der Check-In an Bord erwies sich als recht unkompliziert. Das Schiff war kaum ausgebucht, wenige Caravan-Touristen, ein Radler aus Hannover und nur zur guten Hälfte gefüllte LKW-Decks – ein Zeichen der Krise? Die Dame am Schalter sprach, wie zu hören war, mit ihren Kolleginnen Russisch. „Urd“ ist ein „Stena“-Kahn, also schwedisch, das Personal ist lettisch und obendrein russischsprachig. Was da die Firma wohl an Lohnkosten spart... Die Kabine war ebenfalls einfach eingerichtet, Doppelstockbett mit Bettwäsche, Handtüchern, Dusche, Glotze, picobello sauber.

 

Boarding
Boarding
Travemünde Stadtfähre
Travemünde Stadtfähre
An Bord der Urd
An Bord der Urd

Überpünktlich legten wir ab. Auf dem Sonnendeck war es heiß, aber windig – eine angenehme Sache nach 5 schwülwarmen Stunden in Moppedklamotten. Recht bald wurde zum Abendessen ausgerufen. Das, Leute, ist nix für Vegetarier! Klassische Sowjetküche: Frikadellen, Buchweizengrütze, Bratkartoffeln, Schweinebraten, Rote-Bete-Salat, Moskauer Salat (Kartoffeln, Ei, Erbsen und viiiiel Mayonnaise). Nach dem Essen öffnete auch schon die Bar, und ich verkrümelte mich mit bellestristischer Lektüre in ein schattiges Eckchen des Sonnendecks, bewaffnet mit einem Pint lettischen Cēsu-Gerstenbräus (ja, richtig, 1 english pint. Flaschenbiere sind in den baltischen Ländern tatsächlich oft als 0,568 Liter konfektioniert).

 

Einige Trucker hatten die zentrale Sitzgruppe okkupiert und erzählen sich bei Pepsi und Seven Up lautstark irgendwelche lustigen Geschichten. Je weiter der laue Abend fortschritt, desto lauter wurden sie, und dann rollten auch schon auf dem Fußboden unter ihrem Tisch die ersten leeren Wodka-Pullen herum.

 

Wir waren etwa bei 56°N, und so blieb der wolkenlose Nordhimmel nach Sonnenuntergang gegen 23 Uhr die ganze Nacht über hell. Leider konnte man deswegen keine Sterne sehen. Im Winter sieht das bestimmt anders aus. Allerdings bot sich ein anderes Himmelsschauspiel: Der Erdbeermond, von dem es heißt, er sei selten, war zu sehen. Groß und bernsteinfarben hing er irgendwo im dunklen Südhimmel über Polen, das das Schiff gerade im Begriff war zu passieren.

 

Der nächste Tag zog sich dann zunehmend wie Gummi, trotz reichlicher Kalorienzufuhr aus der Sowjetkombüse, unzähligen Kaffees und der spannenden Lektüre. Doch auch das ging vorüber, und am

 

 

24.09.2016

 

um halb zwei früh legten wir an.

 

 

Mitternacht bei 56°N
Mitternacht bei 56°N