Ceturtā nodaļa – Latvija

Lettlands A12 ist gleich hinter der Grenze eine Großbaustelle, doch, wie üblich, wird dort unter Hochdruck gearbeitet, wobei der Verkehr überraschenderweise nicht merklich beeinträchtigt wird. Dabei ist auch dies eine der Hauptmagistralen, die in die Industriestadt Daugavpils, Dünaburg, führt. Bald taucht ein Truckercafé auf, das ein komplettes Mittagsmenü für 3,50€ anbietet, das ich jedoch nicht bestelle, sondern stattdessen frischgebackene Honigkuchen zum Kaffee, die kosmisch schmecken.

Etwas planlos reite ich in Krāslava ein, einer Kleinstadt, die zu weiten Teilen aus Holzhäusern besteht, die entweder ganze Straßenzüge bilden oder aber in geschlossenen Reihen vor Sowjetwohnblöcken stehen. Das Zentrum bildet ein restaurierter Kirchenkomplex, den sich friedlich eine orthodoxe Basilika und eine katholische Kathedrale teilen. Nach einer Stunde Spaziergang durch Krāslava geht es nach Aglona, seit 1993 ein Wallfahrtsort, als Papst Johannes Paul II dort eine Messe las.

 

Ein ambitionierter Fotograf hätte heute an Aglona seine helle Freude: Massive Gewitterwolken türmten sich am Himmel über der blendend weißen Kirche, die noch von der Sonne angestrahlt wurde. Dieses Schauspiel dauerte nicht lang, denn alsbald öffnete der Himmel zum ersten Mal so richtig seine Schleusen.

 

Kraslava. Basilika und Kathedrale
Kraslava. Basilika und Kathedrale
Verlassener Busbahnhof
Verlassener Busbahnhof
Kraslava. 50er Jahre Sowjetlimousine im Gewerbegebiet
Kraslava. 50er Jahre Sowjetlimousine im Gewerbegebiet

Kraslava. Stilmix aus baltischem Holz und sowjetischem Ziegel
Kraslava. Stilmix aus baltischem Holz und sowjetischem Ziegel

 

Als Regenschauer Nr.1 aufgehört hatte, galt es einen Zeltplatz zu finden. Ich wurde auf der Karte fündig, verfuhr mich allerdings ständig und stand so auf einmal vor einem imposanten Schulbau der 20er Jahre. Doch bald fand sich am Straßenrand ein kleines Schild, das auf einen Campingplatz in der Nähe hinwies. Der Weg war wieder einmal unbefestigt, doch nach einer Weile erschien eine Wiese mit Holzhütten darauf. Niemand da, das Haupthaus verwaist, aber es hatte eine überdachte Terrasse. Keine Sekunde zu früh, Regenschauer Nr. 2 setzte ein und ging unauffällig in einen ordentlichen Landregen über. Aber dann tat sich etwas. Eine Frauenstimme drang durch den Wald und bald erschien eine hübsche Mittvierzigerin im schlabberigen Bademantel.

 

Ob sie die Vermieterin sei? Nein, sie sei zum Angeln hier, aber das ginge ja jetzt nicht, des Regens wegen. Na toll, und du rennst hier durch den Regen, während die Kerle bestimmt schon die Pulle am Hals haben. Da tauchte auch schon ein beleibter Herr auf, Bürstenhaarschnitt. Camouflage-Klamotten, Pulle Bier in der einen, Pulle Schnaps in der anderen Hand. Russisch sprechend. Goldkettchen. Vorurteile brachen sich Bahn.

 

Das ist mein Mann, wir angeln hier zu zweit auf dem See, er hatte grade auf der Landzunge das Boot und die Angelausrüstung gerettet, und nun warten wir auf den Vermieter, der kommt gleich, denn wir wollen nun doch nicht auf dem Zeltplatz bleiben und uns eine Hütte mieten. Der Herr bot mir ein Bier an, nun, ich griff zu und wir wechselten erste Smalltalkbrocken und verstanden uns gleich ganz gut, ein verdreckter unrasierter Biker und ein Angler in Armeeklamotten – passt doch, oder?

 

Einige Minute später bog ein Benz-Kombi in die Einfahrt ein, der Vermieter. Die Formalitäten waren fix erledigt. Leider gab es kein Leitungswasser auf dem Gelände, doch auf Anfrage bekam ich prompt einen vollen Wasserkocher aus der Rezeption in die Hand gedrückt, und Strom hatten die Hütten ja. Der Besitzer sagte, er könne auch das Haupthaus mit allem Komfort vermieten, Sauna, Tanzsaal, Kühlschrank, Sanitäre Einrichtung auf Weltniveau, aber das hätte sowohl sämtliche Budgets gesprengt als auch mein temporäres Selbstverständnis als Naturbursche beschädigt. Dann lieber Plumsklo und Wasserrationierung.

 

Der Regen ließ nach, guck mal, da wird es schon heller, nee, die Wolken kommen doch von dort, da ist alles noch schwarz... Nach einer weiteren Pinte und 20 Minute später obsiegte der Optimismus, die Sonne kam zum Vorschein, die Regenwolken zogen in einiger Entfernung ab. Die beiden liefen sofort aus und setzten unverzüglich ihre Anglertätigkeit fort. Ich richtete mich in der Hütte gemütlich ein, breitete die nassen Sachen zum Trocknen aus und stiefelte los, Proviant einzukaufen. Zurück am Campingplatz entdeckte ich einen Stapel Holz und opferte ein-zwei Esbitwürfelchen, um ein Lagerfeuer zu entfachen. Klappte recht gut, obwohl das Holz feucht geworden war und die erste Stunde dichte Rauchschwaden auf den See zogen.

 

Das Ufer des Sees lag direkt im Norden. Das heißt also: Sonnenuntergang im Nordwesten, Sonnenaufgang im Nordosten – besser geht es nicht!

 

Es war ruhig. Der See plätscherte vor sich hin, die Holzscheite knackten im Feuer. Vögel zwitscherten, ein Kuckuck zählte meine noch hoffentlich zu lebenden Jahre ab. So saß ich dann da, den lesend, kokelnd, tief durchatmend, der Stille lauschend, Bier schlürfend. Ein streunender Kater setzt sich zu mir, in respektvollem Abstand, und wir ignorierten uns höflich. Paradiesisch!

 

 

Es ging schon auf die elf zu, als die beiden wieder anlandeten. Ich lud sie ein, mir am Feuer Gesellschaft zu leisten, doch lehnten sie mit Hinweis darauf ab, alles noch auszuladen, festzuzurren, sich in der Hütte einzurichten.

 

Eine knappe Stunde später tauchte der Herr auf, ein paar Bier und etwas zu Essen dabei, und setzte sich dazu. Jetzt erst stellten wir uns gegenseitig vor. Seine Frau ist Russin, er Lette, und beide sind seit fast 20 Jahren zusammen. Sie wohnen in Dünaburg, und dieser Zeltplatz ist ihr traditioneller Platz für ihre Angelaktivitäten. Sie machen das immer zu zweit, sagte er, eine typische Wochenend-Angelparty mit saufenden Kerlen gäbe ihm nichts, das habe ja nichts mit Erholung zu tun, und außerdem sei seine Frau dermaßen ins Angeln vernarrt wie kaum ein Mann dies jemals könnte. Deshalb liegt sie auch schon in der Pofe, um morgen bei Sonnenaufgang fit zu sein.

 

Ich fragte nach dem Erfolg ihres Fangs, und wir könnten doch ein paar Fische über dem Feuer grillen? Stimmt schon, Hechte und Barsche, habe er gefangen, aber die meisten wieder freigelassen. Nur einige wenige habe er in die Kühlbox verstaut, für zu Hause. Außerdem seien grade die Hechte, die er zunächst gefangen habe, illegal. Illegal? Ja, denn alle Hechte unter 50cm Länge stünden unter Naturschutz und müssten wieder in Wasser geworfen werden. Außer, der Angelhaken hat die Kiemen beschädigt, dann ist es eine Ermessenssache. Aber die Wasser-Ranger sind sehr aktiv im Sommer, jede Verletzung der Richtlinien ziehe empfindliche Strafen nach sich.

 

Er arbeitet im Daugavpilser Amtsgericht, sie ist „nur“ Verkäuferin. In der UdSSR machten derartige Unterschiede im sozialen Status wenig aus. Wir fachsimpelten über die unterschiedlichen Rechtssysteme, ich natürlich als blutiger Laie, und kamen auf Europa, Russland und Deutschland, Brexit, Trump und Nato zu sprechen. So auch, dass sich durch ihre Familie ein Graben zieht – die Verwanden in Russland seien Pro-Putin, jene in Lettland und sie selbst Pro-Europa; die Russen stünden mehrheitlich im stark russisch geprägten Dünaburg der Imperialpropaganda indifferent bis ablehnend gegenüber. Und das, obwohl es ganz offiziell einen kremlnahen Sender in Lettland gibt, den „Ersten Baltischen Kanal“, einen Ableger des „Ersten Russischen Kanals“ Moskaus, der sogar ganz gern geschaut wird.

 

Allerdings sei auch in Dünaburg der wirtschaftlich-soziale Abwärtstrend nicht zu übersehen. Die berüchtigte Abwanderung findet unaufhörlich statt, so dass die Stadtverwaltung Wohnungen, vor allem in den Schlafstädten am Stadtrand, teilweise mietfrei herausgibt, lediglich gegen Zahlung der Betriebskosten. Die EU überließe gerade im sozialen Bereich die baltischen Länder eher sich selber, die Gelder flössen in diverse wirtschaftlich relevante Projekte – gut, der Straßenbau käme allen zu gute, aber vieles an Mitteln versickere halt irgendwo, und so manche dieser Fälle seien sogar juristisch relevant. Und die Aufrüstung wie aktuelle Präsenz der NATO sei ein zweischneidiges Schwert, der Grat zwischen Schutzbedürfnis und Provokation sei ein schmaler. Dennoch gehe es ihnen persönlich soweit ganz gut, und eigentlich wäre es an der Zeit, ihren Honda X-Trail gegen einen ordentlichen Landrover Defender auszutauschen. So schwätzen wir über alles Erdenkliche an leichten und schweren Themen, kauten auf selbstgemachten Wurstwaren herum, tranken mehr vom leichten Bier (auch er mochte es lieber als das normale oder gar schwere), bis das Feuer ausging, über dem See das Abendrot übergangslos dem Morgenrot Platz machte.

 

 

Den nächsten Tag, sonnig und mild wie er war, verbrachte ich komplett immobil vor Ort, am Ufer, im See, am Feuer, abgammelnd, lesend, die Ruhe der Natur in mich aufsaugend. Die beiden waren den ganzen Tag auf dem See angeln. Und ich fällte eine Entscheidung: 10 Tage Baltikum und 11 Tage Hatz zum Nordkapp finden nicht statt. Es ist nämlich bereits der

 

 

01.07.2016

 

und noch nicht einmal die Hälfte des baltischen Pensums geschafft. Abends, noch im Hellen, verkrochen wir uns in unsere Hütten. Die beiden hatten noch ein paar Tage frei und wollten woanders mit ihren Familien etwas unternehmen und dafür früh aufbrechen. Ich auch.

 

02.07.2016

 

Der Landstrich heißt Latgale, zu deutsch Lettgallen, ist die flächenmäßig die größte Gegend Lettlands und gehörte einst zu Polen. Die Bevölkerung ist daher, anders als im restlichen Lettland, katholisch geprägt. Und Latgale ist am dünnsten besiedelt. Der Reiseführer von 2007 schreibt, dass hier noch Pferdefuhrwerke ein wichtiges Transportmittel seien, aber das ist entweder Quatsch oder völlig überholt, dennoch ticken die Uhren wirklich langsamer.

 

Auf der Hauptstraße nach Rēzekne, der Provinzhauptstadt, ist kaum jemand unterwegs. Ich passiere eine Mittelmeerinsel im Dorfformat namens Malta. In Rēzekne angekommen merkt man wenig von einer hauptstädtschen Anmutung. Auf dem Zentralmarkt wird träge mit Gemüse, Obst und Chinakram gehandelt. Die Läden haben teilweise mittags zu. Der 2. Weltkrieg und der sowjetische Wiederaufbau haben nichts von der alten Stadt, die im 9. Jahrhundert gegründet wurde, übriggelassen, nur eine alte Ordensritter-Burgruine steht auf einem Hügel, davor ein futuristisches Gebäude, die Touristeninformation. Ein gelangweilter Hipster gammelte dort inmitten von Souvenirs und Volkskunst herum. Nach einer Ehrenrunde um das Nationaldenkmal „Latgales Māra“, errichtet 1939 zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Lettlands, alsbald von den Sowjets geschleift, 1991 wiedererrichtet, setzte ich die Reise Richtung Estland fort, cruisend, soweit es mit einer CB500...

 

Rezekne. Futuristische Touristen-Information
Rezekne. Futuristische Touristen-Information
Litene. Gedenkstätte.
Litene. Gedenkstätte.

 

Bei Litene ist ein Soldatenfriedhof zu einem nationalen Denkmal umgebaut worden. Eine Tafel informiert über das Massaker der Sowjets an den dort in einem Lager internierten Offizieren der einstigen republikanischen lettischen Armee, die sich im Juni 1941 weigerten, in den Reihen der Roten Armee gegen die Wehrmacht zu kämpfen.

 

Alūksne im Nordosten Lettlands gehört zum evangelisch geprägten Vidzeme. Die Kirche ist im deutsch-klassizistischem Stil gehalten und eine der schönsten Sakralbauten des Landes. Davor steht ein kleines Gebäude, das Bibelmuseum. Das Hauptexponat ist, neben vielen Bibeln in verschiedenen Sprachen aus verschiedenen Epochen und Ländern, ein Exemplar der ersten überhaupt in Lettisch erschienenen Heiligen Schrift aus dem 17. Jahrhundert aus der Feder des deutschen Pastors Ernst Glück.

 

Alūksne. Ortseingangs-A
Alūksne. Ortseingangs-A